YOUNG WOMAN AND THE SEA
– Disney+ seit 19.07.2024
Es sind die Augen. Alles liegt in ihren Augen, wenn Trudy Ederle als Jugendliche den Aufstand probt um schwimmen zu lernen, wenn sie bei den olympischen Spielen versagt, wenn sie wütend wird, oder überglücklich ist. Daisy Ridley kann so viel mit so wenig, dafür umso intensiver. Und das ist entscheidend in einer Biografie, die aussieht wie eine dramaturgische Schablone aus dem Versandhandel für Helden-Geschichten. Ridley macht einen Film interessant, den man nach dessen Handlungsstruktur glaubt schon dutzende Male gesehen zu haben. Aber dieser Film hat noch etwas, was man unbedingt mit in Betracht ziehen sollte, und das ist sein außergewöhnlich korrektes Buch. Jeffrey Nathanson hat mit THE TERMINAL und CATCH ME IF YOU CAN schon zweimal Bio-Pics verfasst, mit sehr großzügiger Interpretation der wahren Begebenheiten. YOUNG WOMAN AND THE SEA hingegen hält sich (nach wikipediafreier Recherche) ungewöhnlich nahe an die wirklichen Ereignisse, Figurenbeschreibungen, und persönlichen Details.
Nach fünf erfolgreichen Überquerungen von Männern, hat Trudy Ederle als erste Frau die 34 Kilometer des Ärmelkanals durchschwommen. In 14 Stunden und 35 Minuten, zwei Stunden schneller als die bis dahin männliche Bestzeit. Ein Rekord, der erst 24 Jahre später gebrochen wird, von einer anderen Frau. Die letzten, sehr intensiven 50 Minuten verbringt der Film mit Trudy Ederles erstem Versuch und schließlich ihrem Triumph im zweiten Anlauf. In der ersten Hälfte beschreibt Nathanson sehr genau den steinigen Weg von Trudy, und das einfache Leben ihrer deutschen Einwandererfamilie. Und Joachim Rønning, Regisseur von MALIFICENT 2 und des grandiosen KON-TIKI, zaubert daraus ein durchaus gefällig konstruiertes, und dennoch mitreißendes Zeitdokument.
Zeitdokumente auf eine Person zu projizieren ist heikel, aber im Falle der kleinen Trudy sehr trefflich. Eine schwere Masernerkrankung bringt sie fast ins Sterbebett, danach hat sie den größten Teil ihres Gehörs verloren. Aufenthalt im Wasser könnte sie taub werden lassen, dennoch oder vielleicht gerade deswegen will sie unbedingt schwimmen lernen. Eine Absonderlichkeit für Frauen des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Trudys beste Freundin ist ihre Schwester Meg, mit deren Hilfe sie sich in einer winzigen Schwimmhalle unter der Leitung von Trainerin ‚Ebby‘, vom hoffnungslosen Fall zur besten Schwimmerin entwickelt. Was sie mit einem Schwimmteam zu den olympischen Spielen 1924 in Paris bringt, was allerdings mit niederschmetternden Ergebnissen endet.
In Wirklichkeit hat Trudy Ederle in Paris eine Goldmedaille gewonnen. Der Film macht daraus lediglich eine in Bronze, um abkürzend den Effekt zu erhöhen, den ein gnadenloses Patriarchat seinerzeit noch ausübte. Nicht nur auf die ambitionierte Schwimmerin, sondern auf die Frauenwelt gesamt. Der Regisseur setzt der treibenden Energie von Ridleys Trudy immer die passive Gewalt der von Männern geführten Gesellschaft entgegen. Aber Rønning macht daraus kein schreiend aggressives Drama. Im Ton bleibt der Film immer familienfreundlich, und fokussiert sich mit der Kraft von Daisy Ridley, auf den Willen von Trudy Ederle. Neben ihr ist Tilda Cobham-Hervey als Meg zu sehen. Die natürliche Warmherzigkeit zwischen den Figuren ist schlichtweg faszinierend.
Der Film ist überhaupt voller starker Frauenfiguren. Die von Jeanette Hain mit bissiger Beharrlichkeit gespielte Mutter, die gegen jede Ordnung alles für ihr Kind tut. Oder Trainerin Charlotte ‚Eppy‘ Eppstein, gespielt von Sian Clifford, die mit abschätzender Zurückhaltung die gesellschaftlichen Normen auszutricksen versteht. Aber abgesehen von Hauptdarstellerin Ridley, macht den größten Eindruck das grandiose Team des Produktionsdesigns um Nora Takacs Ekberg. Zusammen mit THE IMITATION GAME-Kameramann Oscar Faura entstehen einzigartige Szenen, bei denen Filmbauten, Ausstattung oder Computerbilder so stark die verführerische Magie längst vergangener Filmepen atmen, dass man ihre Authentizität wirklich nicht infrage stellen will.
In der letzten Hälfte übernimmt das unerbittliche Meer die Führungsrolle, dem Joachim Rønning trotz des bekannten Ausgangs viele starke Momente und spannende Sequenzen entreißen kann. Hier ist Oscar Fauras Kamera noch gefragter als zuvor. Beim Kraulen in der aufbäumenden See lässt er sogar Trudys Lächeln unter Wasser erkennen, wie sie voller Freude in ihrem Element aufgeht. Wo Kulissen und Darsteller rar werden, sind die Details umso wichtiger, was meisterlich umgesetzt wird. Rønning und Faura legen ihr Publikum direkt neben Ridley ins Wasser. Sie lassen Anstrengungen und Qualen regelrecht mitfühlen. Und mit schreien, wenn sie durch ein Feld von Feuerquallen schwimmen muss. Oder mit verzweifeln, wenn sie auf offener See nachts die Orientierung verliert.
Niemand kann behaupten von der Geschichte sonderlich überrascht zu sein. Aber durch das atemberaubende Produktionsdesign und die außergewöhnlich flotte Inszenierung entsteht weder ein optischer noch intellektueller Leerlauf. Auch Dank der ganz wenigen Änderungen. Und alles liegt in ihren Augen, in diesen energiegeladenen Augen, mit denen sich Daisy Ridley die Sportikone Trudy Ederle zu eigen macht. Eine Frau die stärker war als das System, und bei der die Papierstreifen-Parade in New York mehr als verdient war. Und wer dennoch die letzten Einstellungen für eine Disney-eske Überdramatisierung hält, sollte im Abspann das Originalmaterial dazu sehen.
Darsteller: Daisy Ridley, Tilda Cobham-Hervey, Jeanette Hain, Kim Bodnia, Sian Clifford, Glenn Fleshler, Stephen Graham, Christopher Eccleston u.a.
Regie: Joachim Rønning
Drehbuch: Jeff Nathanson
Nach der Biografie von Glenn Stout
Kamera: Oscar Faura
Bildschnitt: Una Ní Dhonghaíle
Musik: Amelia Walker
Produktionsdesign: Nora Takacs Ekberg
USA / 2024
129 Minuten