– Apple TV+ seit 11.10.2024
„Ehe ist empfindlich“, sagt eine noch unbekannte Erzählerin. Im Original gehört diese klare, eindringliche Stimme Indira Varma, die mit der Hauptfigur in der zweiten Person spricht. „Da ist eine Balance die Du erhalten musst. Und du dachtest, du wärst erfolgreich gewesen, diese Balance zu halten“.
Die Hauptfigur ist Catherine Ravenscroft, eine erfolgreiche und anerkannte Dokumentar-Journalistin. Sie hat einen liebenden Gatten, und einen Sohn, der sich gegen eine Beziehung mit ihr sträubt. Gerade hat sie einen renommierten Preis überreicht bekommen, und ein dünnes Buch mit dem merkwürdigen Disclaimer, ‚Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen ist KEIN Zufall‘. „Ehe ist empfindlich“, und Catherine weiß allein vom Lesen des Disclaimers, dass ihre Ehe am Rande eines bodenlosen Abgrunds steht. Aber als Zuschauende können wir nur vage erahnen warum, denn parallel zu Catherines Geschichte, werden noch zwei weitere Handlungsstränge erzählt.
Wie bei den meisten Inhalten die Apple TV offeriert, beweist sich auch DISCLAIMER als etwas Besonderes im Streaming-Überangebot. Wobei Autorenfilmer Alfonso Cuarón schon für sich allein etwas Besonderes ist. Mit ROMA hat er den ersten Streaming-Film realisiert, der für eine Oscar-Nominierung zugelassen wurde, und auch noch gewann. DISCLAIMER ist nicht perfekt. Alle Filme von Cuarón haben diese kleinen Macken. Aber sie haben dennoch diese starke, emotionale Wirkung. Eine Wirkung die auch bei dieser siebenteiligen Serie anschlägt, mit der hier gegebenen Zusage, dass das erste Kapitel als Referenz ausreicht, um über abschalten oder weiterschauen entscheiden zu können. Denn DISCLAIMER ist lang, sehr lang. Was aber auch verdammt notwendig ist.
Stephen Brigstocke ist ein alternder, ausgebrannter Professor einer Privatschule. Aus dem Off kommentiert er seine Geschichte selbst, in der ersten Person. Sohn Jonathan ist gestorben, worüber Brigstockes Frau Nancy zerbrochen ist. Neun Jahre ist er nun Witwer, und trennt sich endlich von Nancys Hinterlassenschaften. Dabei fällt ihm ein Manuskript in die Hände, welches seine Frau im Geheimen verfasst hat. Eine Geschichte, die in Buchform Catherines Leben auf den Kopf stellen wird. Wie weit, lässt sich nach zwei von sieben Kapiteln DISCLAIMER noch nicht sagen. Für die Zuschauenden beginnt ein kleines Dilemma, denn es ist von dieser Seite aus angeraten sich Alfonso Cuaróns Serie erst dann anzusehen, wenn alle Kapitel veröffentlicht sind. Was natürlich schwierig wird, sollte man nach der ersten Episode den oben beschrieben Zugang gefunden haben.
Es ist ein faszinierendes Psychogramm, ein fesselnder Thriller. Aber die sensationelle Besetzung macht es einem auch unheimlich leicht. Manch schwülstiger Satz, oder banalen Dialog bereiten Blanchett, Kline und Baron Cohen wie das wirklich wahre Leben. Lobende Worte über Cate Blanchett wären die nach Athen getragenen Eulen. Aber wie sie ihre Catherine zwischen Überheblichkeit und Verzweiflung hält, wie sie schließlich an unvorgesehenen Ereignissen scheitert, ist schlicht grandios. Catherine ist in keinem Moment pathetisch, sondern in ihrer stillen Verzweiflung zutiefst menschlich.
Es ist riskant über einen Darsteller zu sagen, dies wäre seine Karriere definierende Rolle. Doch als rachsüchtiger Brigstock hat man bei Kevin Kline wirklich den Eindruck, als wäre er noch nie so vielschichtig gewesen. Die ständigen Wechsel zwischen seiner depressiven Person und der diebischen Freude an der zerstörerischen Genugtuung ist fast schon beängstigend. Die wirkliche Überraschung ist allerdings Sacha Baron Cohens intensiver Fokus auf einen ausgeglichenen, pragmatischen Ehegatten Robert, dem der Boden unter seinem eigentlich festen Stand weggezogen wird. Baron Cohen und Blanchett sind Partner, denen man ihre lange Beziehung als selbstverständlich und real abnimmt. Doch der wirkliche Star ist eigentlich Cuaróns raffinierte Erzählstruktur. Die Wechsel zwischen den drei Ebenen wirken am Anfang ziemlich willkürlich, weil der Regisseur sein Publikum nicht an der Hand führt. Er fordert es zum eigenen sondieren auf.
Für jeden Erzählstrang haben die gestaltenden Kameraleuten Bruno Delbonnel und Emmanuel Lubezki ein eigenes visuelles Konzept. Die starken Kontraste in überlegen wirkenden Hochglanzbildern für die erfolgsverwöhnten Ravenscrofts. Leicht diffuse, mit Unschärfen spielende Einstellungen und matte Farben in der melancholischen Welt von Stephen Brigstocke. Die überstrahlenden, Schmalfilm nachempfundenen, und von Kreisblenden eingerahmten Erinnerungen an Jonathan Brigstockes Urlaub von vor zehn Jahren, mündend in der verhängnisvollen Begegnung mit einer Unbekannten.
Cuarón weiß genau worauf es ankommt. Er gibt seinen Charakteren sehr viel Zeit, die aber wunderbar genutzt wird, um sie mit all ihren Ecken und Kanten verständlich zu machen. Dies ist eine Erzählung von Alfonso Cuarón, und wie immer in einer Erzählung von Alfonso Cuarón, sind auch hier seine Protagonisten greifbare und reale Personen. Nach und nach zeichnet sich ab, dass das Gute und das Schlechte im Menschen sehr nahe beieinander liegen können. Von Seite zu Seite offenbaren sich neue Sichtweisen, andere Einblicke, diverse Möglichkeiten. Auch wenn die Serie starken Thriller-Charakter hat, entsteht die sich immer weiter aufbauende Spannung aus der Komplexität und der emotionalen Betrachtung seiner Figuren. Nach nur zwei Folgen glaubt man die Geschichte durchschaut zu haben. Aber was wäre dann mit den restlichen Fünf?
Gleich zu Beginn hält niemand anderes als die reale Christiane Amanpour die Laudatio auf die fiktive Catherine Ravenscroft. Schon damit verdreht Cuarón die Wahrnehmung. „Achte auf die Erzählung und die Form“, sagt Amanpour an die journalistische Arbeit von Catherine gerichtet, wobei einem leicht die subtile Vorsehung entgeht. „Es bringt uns näher zur Wahrheit, hat aber auch die Macht zu manipulieren“. Die Wahrheit kann man in der Erzählung von DISCLAIMER leicht erkennen. Was aber macht Alfonso Cuarón mit der Form? Man wünscht sich, man hätte auf die Verfügbarkeit aller Folgen gewartet.
Darsteller: Cate Blanchett, Kevin Kline, Sacha Baron Cohen, Louis Partridge, Leslie Manville, Kodi Smit-McPhee, Leila George u.v.a.
Regie & Drehbuch: Alfonso Cuarón
Nach dem Buch von Renee Knight
Kamera: Bruno Delbonnel, Emmanuel Lubezki
Bildschnitt: Adam Gough
Musik: Finneas O‘Connell
Produktionsdesign: Neil Lamont
Großbritannien, USA / 2024
7 Episoden
343 Minuten
Bildrechte: APPLE TV+