– Bundesstart 29.08.2024
– Release 09.08.2024 (US)
Sie heißt Gretchen, die Betonung liegt auf dem R. Sie ist siebzehn und kommt aus Amerika mit ihrem Vater, der Stiefmutter und der stummen Halbschwester. In den bayerischen Alpen, Deutschland, soll Vater Luis dem aufdringlich arroganten Herrn König helfen, ein neues Hotel zu bauen. Schon im Stil verrät die markante Titeltafel auf der Leinwand, dass sich Filmemacher Tilman Singer an die Ästhetik des Kino der Siebzigerjahre hält. Gretchen ist wegen des Todes ihrer Mutter noch in der Trauerphase, weswegen ihr Herr König zur Ablenkung einen Job an der Rezeption des Urlaubsresort Alpenschatten anbietet. Bereits bei ihrem ersten Dienst kommt es zu seltsamen Vorkommnissen. Aber Tilman Singer lässt offen, ob die eigenartigen Ereignisse nicht Gretchens Fantasie entspringen. Schließlich ist ihr mentale Haltung und allgemeine Unzufriedenheit offenkundig. Deswegen hinterlässt sie auch immer wieder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ihrer toten Mutter, aber hauptsächlich um deren Stimme zu hören.
Es ist die Atmosphäre des Autorenkino der Siebzigerjahre, gepaart mit den Gedanken über menschliche Extravaganzen der Novelle Vague, mit dem Einfluss von Wes Anderson, dem von David Lynch geholfen wurde. Schon vor sechs Jahren hat Tilman Singer mit dem Erstling LUZ einen Film dieser Art gemacht, und er tut es erneut.
CUCKOO ist ein unheimlich stylischer Film mit ganz eigener Ästhetik. Doch die Qualitäten von Singer liegen darin, es nicht so aussehen zu lassen. Unentwegt bringt der Regisseur die Wahrnehmung und Empfindungen ins Wanken. Warum interessiert niemanden, dass sich Frauen in der Einkaufslobby des Resorts einfach übergeben? Der Horror baut sich über vorsichtig inszenierte Absurditäten auf. Es entsteht ein Gefühl von Desorientierung. Warum legt Herr König so viel Wert auf die Betonung des R in Gretchen? Es entsteht aber gleichzeitig auch eine unglaublich amüsante Atmosphäre. Manchmal durch irrationale Dialoge, manchmal durch widersinnige Situationen, aber sehr oft durch das sehr offensichtliche Spiel mit klassischen Elementen des Horrorfilms.
So bewusst Singer manche Sequenzen auch vorhersehbar inszenieren mag, treffen sie gerade deswegen sehr effektiv den Nerv des Grauens. Bei einer bestimmten Fahrrad-Szene mit Gretchen, weiß jeder im Auditorium was passieren wird, und dennoch fährt einem der Schrecken in die Glieder. Aber der Filmautor hat viel mehr in seinen zweiten Film gepackt als nur den Standard-Grusel durch ein jagendes Schreckgespenst. Es gibt einen Anflug von Body-Horror, ordentlich Psychoterror, und Kräfte die über das Weltliche hinausgehen. Aber näher darauf einzugehen wäre wider jedlicher Vernunft.
Die Ausgeglichenheit ist entscheidend, wie Tilman Singer seinen Film ausrichtet. Er lässt sich nicht festlegen, und ist im fließenden Wechsel mit seinen differenzierenden Horrorszenarien, von denen aber keines dominiert. Das macht CUCKOO unglaublich spannend. Immer wieder absurd, aber spannend. Und auf besondere Weise sehr unterhaltsam. Das ist in erster Linie auf die geniale Besetzungswahl von Hunter Schafer zurückzuführen. Gretchen und Herr König sind mit ihren Gegensätzen eine Traumpaarung von Gegnern. Dan Stevens tut, womit er schon immer bestens glänzen konnte – er spielt voll auf, immer knapp am Rand der Karikatur, ohne sein bedrohliches Wesen zu verlieren. Aber CUCKOO ist Hunter Schafers Film.
Für ihre erste Hauptrolle hätte man das eigentliche Model, welches genau aus diesem Grund durch EUPHORIA bekannt wurde, in einer aktuell für das Genre typischen Optik erwartet. Aber nicht nur das schlabbrige Outfit, sondern Schafer selbst verweigert sich jedem Ausdruck von Attraktivität. Wer aufpasst sieht, dass sich Gretchen die Haare selbst scheidet. Zwischen Melancholie und Teilnahmslosigkeit entsteht zuerst der Eindruck von Desinteresse an der Rolle. Ein fabelhaftes Kalkül das aufgeht, je weiter sich die Ereignisse verdichten, und Schafers Charakter aktiv werden muss.
Es ist nicht verkehrt diesen Film ein wildes Vergnügen zu nennen. Man weiß nie was passiert. Immer wieder kommt es zu Überraschungen. Aber Tilman Singer verliert nie die Richtung oder den Strom. Das Ambiente zwischen den Siebzigern und Achtzigern ist kein bloßes Gimmick sondern bestimmt auch den Ton des Films. Was Kamermann Paul Faltz gut zu nutzen versteht, der auch Singers LUZ ähnlich atmosphärisch gestaltet hat. CUCKOO ist nicht der Gruselspaß des Mainstream-Klientel. Er könnte nicht weiter von der Blumhouse-Monotonie entfernt sein. Und genau diese Originalität ist auch seine Empfehlung. Filmemacher wie Tilman Singer machen deutsches Kino auch international sehenswert. Nur gibt es kaum welche von diesem Schlag.
Darsteller: Hunter Schafer, Dan Stevens, Jan Bluthardt, Marton Csokas, Jessica Henwick, Mila Lieu, Greta Fernández u.a.
Regie & Drehbuch: Tilman Singer
Kamera: Paul Faltz
Bildschnitt: Terel Gibson, Philipp Thomas
Musik: Simon Waskow
Produktionsdesign: Dario Mendez Acosta
Deutschland, USA / 2024
102 Minuten