WHITE NOISE
– Bundesstart 08.12.2022
– Netflix seit 30.12.2022
Bei solchen Filmen, geht es um den kleinen Mann, auf den die Großen Dinge dieser Welt heruntergebrochen werden (Für die, die nicht der Umgangssprache mächtig sind, darf es auch die kleine Frau sein). In WHITE NOISE ist es gleich eine ganze Familie. Eine von vielen Herausforderungen ist, am Ende des Films noch wiederholen zu können, welches der Kinder von Jack und Babette aus welcher vorausgegangenen Beziehungskonstellation der Beiden hervor ging. Aber das nur nebenbei. WHITE NOISE turbulent zu bezeichnen, wäre also untertrieben, schließlich ist es eine Geschichte über ganz normale Menschen. Normale Menschen während einer ganz normalen Katastrophe. Früher hätte Frank Capra diesen Film gemacht, der ebenfalls den Widrigkeiten des Lebens mit einem Augenzwinkern und Schulterzucken begegnen konnte, bis es schreiend komisch wurde. Weil es immer noch wichtigeres gibt, als den Weltuntergang.
Noah Baumbachs Filme sind stets intensive Betrachtungen der menschlichen Natur, sind aber nie melodramatisch. Babette Gladney leidet unter einer Form von Amnesie, dessen sie sich bewusst ist, dass Familienleben aber im Griff zu haben glaubt. Ihr Mann Jack ist Lehrer mit dem Fachgebiet Adolf Hitler. Die vier Kinder, wovon nur eines ein gemeinsames Kind ist, sind gewöhnliche Vorstadtkinder. Baumbach inszeniert meisterlich den turbulenten Alltag der Familie. Meist mit überlappenden Dialogen, die auf die Zuschauenden haltlos chaotisch wirken, doch selbst im Trubel bleibt keine Bemerkung oder Frage unbeachtet.
Szenen wie die Einführung der Gladneys etablieren so etwas wie einen roten Faden in der Erzählung. Bei Establishing Shots mit größeren Menschenmengen, sei es im Supermarkt oder im Evakuierungszentrum, fährt die Kamera elegisch über die Massen und man hört immer nur die kurze Sätze der jeweiligen Personen im Bild. Es ist ein sonderbares, und doch faszinierendes Panoptikum an individuellen Sorgen, Nöten und auch Ignoranz, die trotz einer kollektiven Situation vorherrschen. Lol Crawley, das erste Mal mit Baumbach zusammen, weiß genau, was er mit seiner Kamera tun muss.
Die Choreographie seiner Einstellungen mit den von Baumbach im Raum geführten Darsteller ist erstaunlich. Zuschauende sind stets bei den jeweils Sprechenden, so das trotz des Wahnsinns im Tempo, die Dialoge an entsprechender Person festgemacht werden kann. Aber Lol Crawley zeigt sich mit seinem von Netflix vorgegebenen (!) 35mm-Material auch als Kompetenz des Kinos der Achtzigerjahre. Denn vom ersten Kapitel „Waves And Radiation“ geht es mit einem Katastrophenszenario hinüber zu „The Airborne Toxic Event“, welches das gesamte zweite Kapitel umfasst. Die Freunde des gepflegten Action-Spektakels werden nicht enttäuscht.
Während die Bildgestaltung mit einer sensationellen Farbpalette schwelgerisch die Atmosphäre des Spielbergschen Spannungskinos auskostet, lässt Baumbach seine Protagonisten die metaphysischen Aspekte der Ereignisse ausloten. Don DeLillo hat sein Buch im Schatten von Three Miles Island und Tschernobyl geschrieben. Und Noah Baumbach sah Anfang der weltweiten Pandemie einen perfekten Ansatz, wie das fast vierzig Jahre alte Buch wieder zeitgemäß wurde, welches unter anderem auch schon einmal Barry Levinson für eine Adaption vorliegen hatte. Aber das Buch ist eben auch so komplex, dass vielleicht ein aktueller Anstoß notwendig war.
Im dritten Teil „Dylarama“ löst sich schließlich die Erzählung von seiner ohnehin sehr lockeren Struktur. Aus dem humorvollen Familien-Psychogramm welches sich als Katastrophenfilm entpuppte, schält sich ein komischer Krimi mit Anleihen beim Film Noir. WHITE NOISE war von Beginn eine Geschichte über die Ohnmacht gegenüber des nicht Greifbaren. Unablässig sind die Figuren dabei Dinge auszublenden, zu ignorieren, oder zu ihren Gunsten zu interpretieren. Jack bemerkt über Babettes Vorstellung der Zukunft, es höre sich nach einem verdammt langweiligen Leben an. Worauf Babette entgegnet, sie hoffe es würde ewig währen.
Noah Baumbach ist kein Regisseur für das Katastrophen-Genre. Gerade deswegen funktioniert auch das apokalyptisch anmutende Szenario. Über Adam Driver mit Schmerbauch und Greta Gerwig mit überdimensionierter Lockenpracht muss wohl niemand große Worte verlieren, die eh nur in verdienten Superlativen enden müssten. Don Cheadle ist auch immer gut, aber hier wohl am besten. Es sind die ausgezeichneten Nebendarsteller Raffey Cassidy und die realen Geschwister Sam und May Nivola, die der Geschichte eine erstaunliche Bodenhaftung geben. Wenn wir bei WHITE NOISE ununterbrochen lachen und kichern, geht das nicht auf Kosten der Figuren. Es sind die Darsteller, in denen wir uns wiedererkennen dürfen.
An vielen Stellen müssten demnach auch die Charaktere für die Zuschauenden kaum greifbar sein. Aber sie werden durch ihre realexistierende Absurdität plausibel. Jacks Professorenkollege Murray hält am Filmanfang einen Vortrag über die Entwicklung von Auto-Stunts in Filmen, und setzt diese in einen derart verdrehten Kontext, dass man daran glauben und es genau so wahrhaben möchte. Aber da ist WHITE NOISE als Film noch ganz am Anfang, der am Ende in eine knallbunte und atemberaubende Musical-Nummer mündet. Es sieht aus wie die Welt des Noah Baumbach, aber irgendwie ist es auch unser aller Leben. Spektakulär, verrückt, widersinnig, spannend, herzzerreißend, unbegreiflich, aber immer voller Energie.
Darsteller: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Raffey Cassidy, Andrè Benjamin, Jodie Turner-Smith, Lars Eidinger, Chloe Fineman u.a.
Regie & Drehbuch: Noah Baumbach
nach dem Roman von Don DeLillo
Kamera: Lol Crawley
Bildschnitt: Matthew Hannam
Musik: Danny Elfman
Produktionsdesign: Jess Gonchor
Großbritannien, USA / 2022
136 Minuten