T I L L
– Bundesstart 26.01.2023
In den frühen Morgenstunden des 28. August 1955 wird der vierzehnjährige Emmett Till in Mississippi Opfer von Lynchjustiz. Das Martyrium, bevor der Schwarze Emmett mit einem Kopfschuss getötet wird, ist unvorstellbar. Erst ein paar Tage bevor Emmett von Chicago aus bei seinem Onkel und seinen Cousins in Money, Mississippi, angekommen ist, war bereits ein schwarzer Aktivist in Mississippi ermordet worden. Noch vor der Reise ermahnt seine Mutter den im gemäßigten Illinois herangewachsenen Jungen immer wieder eindringlich, dass im Süden andere Verhältnisse herrschen. Ganz andere. Später wird eine elementare Säule für die nationale Bürgerrechtsbewegung von Emmetts Mutter errichtet, Mamie Till-Bradley, spätere Till-Mobley. Für die Zeitung lässt sie sich im Leichenschauhaus mit dem vollkommen entstellten Emmett fotografieren, und bahrt in Chicago öffentlich den geöffneten Sarg auf. Ganz Amerika wird Zeuge.
Chinonye Chukwu richtet die Rekapitulation der Geschichte ganz auf den größtmöglichen Effekt für expressive Emotionen aus. Jalyn Hall als Emmett überzeugt mit seiner physischen Ähnlichkeit, wirkt aber in seiner ständigen, dabei leicht überzeichneten Fröhlichkeit eher wie ein Sinnbild anstelle eines wirklichen Charakters. Mamies Gefühlswelt wird allein durch Danielle Deadwylers Mimik oder explosionsartige Ausbrüche dargestellt, wofür die Regie auffallend viel Zeit einräumt. Die Weißen aus Money, Mississippi, werden ausnahmslos als Abziehbilder überheblicher Rassisten dargestellt.
Der Film verzichtet klar auf subtile und differenzierte Ansätze. Grautöne lässt Regisseurin Chukwu nicht zu, die das Drehbuch zusammen mit Michael Reilly und Keith Beauchamp geschrieben hat. Beauchamp war über viele Jahre mit dem Fall beschäftigt, hat neu recherchiert, mit Mamie Till-Mobley zusammen gearbeitet, und viele neue Erkenntnisse gewonnen. Die Recherchearbeit war so umfassend, dass der Fall 2004 vom Justizministerium wieder eröffnet wurde und an das entsprechende Gericht in Mississippi übergeben wurde. Resultierend ist TILL als Film gleichermaßen Anklage und Mahnung.
Um den angeklagten Mördern gegenüberzutreten, wird Mamie dem Prozess in Money persönlich beiwohnen. Damit stellt die Mutter das ganze gesellschaftliche System der Rassentrennung und die gesellschaftliche Struktur in bestimmten Staaten bloß, gerade weil die Urteile bereits im Vorfeld absehbar sind. Es gibt bereits einige Dokumentationen, die sich mit diesem Lynchmord und seinen Auswirkungen genau auseinandersetzen, darunter auch eine von Keith Beauchamp selbst. In diesem Zusammenhang ist es dann auch nicht verkehrt, wenn Chinonye Chukwu die Geschichte bewusst auf die rein instinktive Wahrnehmung herunterbricht.
In diesem Sinne ist TILL technisch sehr formal und den jeweiligen Ansprüchen angepasst. Die Bilder von Bobby Bukowski sind klar und entsprechend fokussiert, was besonders im eindringlichen Spiel von Danielle Deadwyler zum tragen kommt. Die vierzigjährige Deadwyler schießt sich mit ihrem aufwühlenden Portrait unvermittelt in die oberste Liga von begehrten Charakterdarstellern. All das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass TILL ein explizit amerikanisch orientierter Film ist. Seine Thematik ist tief in der Geschichte des Landes verwurzelt, und spricht auch unmissverständlich seine Gesellschaft an.
Eine suggestive Umsetzung, wie es Chinonye Chukwu in TILL beabsichtigt hat, wird Oftmals kritisch bewertet. Gerade im europäischen Kino will man sich gerne mit neutralen oder kontroversen Betrachtungen vom traditionellen Erzählkino absetzen. Daher setzt Chukwu mit TILL auch die Bereitschaft voraus, Inhalt und Themen im Kontext von Historie und Land zu sehen. Lynchmorde von weißen Rassisten an Schwarzen hatte eine grausame Hochphase in den 20er bis 30er Jahre, riss aber nie ab. Auch nach dem Tod von Emmett Till war kein Ende von einzelnen rassistisch motivierten Gewaltmorden abzusehen, was bis in unsere heutige Zeit anhält. Aber erst seit 2022 werden diese Verbrechen in den USA mit dem ‚Emmett Till Antilynching Act‘ als Hasskriminalität eingeordnet.
Darsteller: Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, Jamie Renell, Whoopie Goldberg, Sean Patrick Thomas, Haley Bennett, John Douglas Thompson, Gem Collins u.a.
Regie: Chinonye Chukwu
Drehbuch: Chinonye Chukwu, Keith Beauchamp, Michael Reilly
Kamera: Bobby Bukowski
Bildschnitt: Ron Patane
Musik: Abel Korzeniowski
Produktionsdesign: Curt Beech
USA / 2022
130 Minuten