– Bundesstart 01.06.2023
Wer denkt das Ti West PEARL nur gedreht hat, um nach der herausragenden Slasher-Hommage X nur noch eine blutige Schicht oben auf legen zu können, irrt gewaltig. Wer denkt das es im Filmgeschäft keine neuen Ideen mehr geben würde, und Ti West mit PEARL nur schnell den Dollars von X hinterher filmt, liegt da ganz falsch. Zum Ersten ist PEARL eine ganz andere Art von Film in einem ganz anderen Genre-Umfeld. Zum Zweiten wurde PEARL teilweise schon parallel zu den Arbeiten an X gedreht. Also bevor sich der überraschende, aber verdiente Erfolg auch nur andeuten konnte. Und um gleich vorzugreifen, als dritter Teil in der Reihe ist MAXXXINE in dem Entstehungsprozess von PEARL schon mit einbezogen. Und das ist nicht nur gut, sondern sind verdammt gute Aussichten, wenn man X und PEARL im Gesamten betrachtet. Was an dieser Stelle allerdings noch zweitrangig ist.
Es geht 60 Jahre zurück in der Zeit, bezogen auf den ersten Film. Und man muss dem Regie führenden Autoren nur bewundern, wie er jede Notwendigkeit umgeht, X gesehen haben zu müssen. Beide Filme stehen absolut für sich, bilden aber zusammen eine organische Geschlossenheit. Dazu erweisen sie sich als erstklassige Retrospektive des amerikanischen Films. Dabei wären Wests Filme die Vertreter des modernen Kinos. Wobei PEARL eine Geschichte aus den Anfängen dieses Geschäfts erzählt. 1918, auf einer abgelegenen Farm in Texas.
Die junge Pearl ist gelangweilt vom Leben und Arbeiten auf der Farm. Ihr Mann Howard ist noch nicht aus dem Krieg nachhause gekommen. Der Vater sitzt im Krieg versehrt gelähmt im Rollstuhl. Die Mutter ist verbittert, und ängstlich. Die spanische Grippe wütet, und als deutsche Immigranten würden sie in diesem Landstrich keine Hilfe erwarten können. So erträumt sich Pearl ihre eigene Welt als Tänzerin, oder Schauspielerin auf der Leinwand. Aber das Publikum sind die Tiere der Farm, und körperlichen Bedürfnisse bleiben unbefriedigt.
Trotz der Ausflüge in die Stadt, und das unbestimmte Verhältnis zum Filmvorführer des örtlichen Kinos, bleiben die Ereignisse stets auf die isolierte Farm fokussiert. Sie ist eine ins sich geschlossene Welt, aber als Gegenentwurf zum ZAUBERER VON OZ. Ein Film den West immer wieder in Bild und Ausstattung zitiert, entweder genial mit der Fahrradszene, oder ganz und gar nicht jugendfrei im Tanz mit der Vogelscheuche. Die diversen Anleihen, auch bei anderen Filmen, werden zu metaphorischen Elementen in Wests filmischer Ästhetik.
Eine echte Überraschung ist Eliot Rocketts Bildgestaltung, die zwar digital gedreht wurde, dennoch im alten Cinemascope Seitenverhältnis 2,36:1 auf die Leinwand gebracht wird. Die Farben sind leicht übersättigt. Es ist kein Technicolor, in der Brillanz aber überwältigend. Mit den geschwungenen Titeln und der sauberen Ausleuchtung erwartet man umgehend Doris Day hinter dem Scheunentor hervor treten. Ti West geht das künstlerische Risiko ein, die Zuschauenden ständig mit dem Gefühl von Anachronismus zu verwirren.
Das inszenatorische Verwirrspiel geht auf, und definiert PEARL erst als eine eigenwillige Besonderheit. Denn dieser Film ist nicht im Geringsten das, was die meisten Zuschauenden erhoffen dürften. Dennoch gibt es keine Enttäuschungen (es sei denn jemand kann mit anspruchsvollem Kino nichts anfangen). Die Handlung ist eine unablässige Gratwanderung zwischen dem was man sieht, und dem was passiert. Pearls permanente Unzufriedenheit nimmt nach und nach immer groteskere Züge an, was auch die konstante Spannung hält.
Es ist schon zu erwarten, dass es auch blutig werden kann. Und wenn es passiert, dann nicht im schmutzigen Dunkel des alt-ehrwürdigen Slashers, sondern ganz verdreht im strahlenden Sonnenschein. PEARL ist ja auch keine Splatter-Orgie, gemordet wird erstaunlich wenig. Dann allerdings umso deftiger. Der Film erschreckt vielmehr mit dem Wissen, das jederzeit auch alles passieren kann. West inszeniert solche Spannungs-spitzen meisterlich mit dem bestmöglichen Effekt von Terror, weil er versteht auf falsche Fährten verzichten zu können.
Möchte jemand PEARL unbedingt, aber unnötigerweise in ein Genre drängen, wäre es Psychothriller. Was dann aber auch wieder unbefriedigend wäre. Er ist vieles, und wird geschickt zu einem Ganzen. In der grimmigen Atmosphäre widersprechen sich ständig die Elemente. Pearls beunruhigende Verdrossenheit und schauerlichen Ausbrüche stehen im harten Kontrast zu der sterilen Sauberkeit der Farm, die keine Anzeichen von der immer wieder erwähnten harten Arbeit zeigt. Richtige Horror-Atmosphäre entsteht, wenn man Pearls Gedanken erahnt.
Es ist gerechtfertigt PEARL auch als One-Woman-Show von Mia Goth zu beschreiben, die sich mit einer Energie in ihre Rolle stürzt, wie sie noch nicht einmal in X ansatzweise zu bemerken war (auch wenn sie streng genommen ein anderer Charakter war). Höhepunkt ist zweifelsfrei ein fünfminütiger Monolog, der dem Kinosaal den Atem stocken lässt. Näher darauf einzugehen wäre Frevel an der Atmosphäre des Films. Aber Goth‘ Bekenntnisse und Emma Jenkins-Purros subtile Reaktion ist Schauspiel und Inszenierung in aller höchster Güte.
Und das der Film in Zeiten der realen Pandemie auch als Grundlage die spanische Grippe nutzt, ist ein gelungener Kommentar auf unsere Zeit. Nur das der Film diese Parallelen seinem Publikum nicht mit dem Holzhammer aufzwängt. Als angedachter Vertreter des aktuellen modernen Kinos ist keineswegs zu verstehen, Ti West hätte den perfekten Film gestaltet. Das bleibt einem anderen vorbehalten. Aber West hat aus allen bekannten Aspekten und vertrauten Handlungselementen etwas ganz eigenes gemacht. Sie sind lediglich Werkzeuge, die er aber auf andere Art einzusetzen versteht. So ähnlich wie Pearl die Mistgabel auf etwas andere Weise benutzen wird.
Darsteller: Mia Goth, David, Corenswet, Tandi Wright, Matthew Sunderland, Emma Jenkins-Purro, Alistair Sewell u.a.
Regie & Bildschnitt: Ti West
Drehbuch: Ti West, Mia Goth
Kamera: Elliot Rockett
Musik: Tyler Bates, Tim Williams
Produktionsdesign: Tom Hammock
Neuseeland, Kanada, USA / 2022
103 Minuten