Oscar-Nominierung für beste Kurz-Dokumentation
– seit 17. Juni 2022 bei Netflix
Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. So lange und hartnäckig, bis alle es für ein Hirngespinst halten. Martha Mitchell hat die Wahrheit über ihren Mann John N. Mitchell verbreitet, Justizminister in der Regierung Richard Nixon. Seine Beteiligung an der illegalen Abhöraktion im Watergate-Hotel wurde von Martha Mitchell in jede sich anbietende Kamera verkündet. Und sie war jene Figur in Washington D.C., auf die ständig, sehr viele Kameras gerichtet waren. Wer aber derart offen und fast schon feindselig den eigenen Mann anklagt, bei dem muss etwas nicht in Ordnung sein. Versucht diese Frau am Ende von etwas ganz anderem, etwas viel größerem abzulenken? Der später nach ihr benannte Effekt trat ein. Man hielt sie für verrückt, was im Umkehrschluss in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit bedeutete, dass die republikanische Nixon-Administration nichts mit der Abhöraktion gegen die Demokraten zu tun haben konnte. Nixon gewann die Wiederwahl.
Ausschließlich mit Archivmaterial zeichnet Anne Alvergue die Zeit hauptsächlich zwischen 1970 und 1975 nach. Vom Einbruch ins Watergate-Hotel bis hin zu John Mitchells Verurteilung wegen Verschwörung, Meineids und Behinderung der Justiz. Auch wenn Alvergues Film durch und durch die staatstragenden Geschehnisse thematisiert, ist jeder Filmschnipsel, alle Auszüge aus Telefonmitschnitten und jedes Interview auf Martha Mitchell ausgerichtet. Sie wird als schillernder Vogel gezeigt, weil sie als außerordentlich extrovertierter Mensch den Rahmen der gewohnten Politikerfrau sprengte. Sie äußerte sich, manchmal auch ungefragt, zu politischen Themen und den Menschen dazu. Durch den Job ihres Mannes als Justizminister verfügte sie auch über alle Direktleitung, einschließlich des Präsidenten. Und Martha Mitchell machte sehr oft Gebrauch von den Nummern.
Es sind zweifelsfrei immer wieder die witzigsten Ausschnitte, wenn sich zum Beispiel ein verzweifelter Richard Nixon im vertraulichen Gesprächen mit anderen beklagt, dass er sich dieser Martha einfach nicht erwehren kann. Oder wenn Entscheidungen in den Polit-Büros gefällt werden, aber schon im Vorfeld die Verantwortlichen Angst vor Marthas Anruf haben, wo ihnen wie üblich der Kopf gewaschen wird. Trotz der guten Lauflänge von 40 Minuten wird die Person, jene Zeit und die öffentliche Meinung nur oberflächlich abgehandelt. Das kann man der Filmemacherin ohne weiteres vorwerfen, wenn jemand tiefer in die politischen Strukturen und gesellschaftlichen Zusammenhänge jener Zeit vordringen möchte. THE MARTHA MITCHELL EFFECT mag oberflächlich sein, aber nicht unzureichend.
Co-Regisseurin Debra McClutchy hat ihrer Vita nach zu urteilen wahrscheinlich die Recherchearbeiten geleitet, aber Regisseurin Anne Alvergue ist in ihrer vorrangig beruflichen Ausrichtung Cutterin. Höchstwahrscheinlich hat der Film auch deswegen ein visuelles Narrativ. Natürlich gibt es viele exemplarische Tonfragmente und Interviews, aber es sind ausschließlich Originaltöne. Und Anne Alvergue hat dies in einer cleveren Struktur zusammengefasst, in der immer die Bilder dominieren und demnach auch erzählen. Das ist unterhaltsam, witzig, manchmal auch erschreckend, und immer irgendwie schräg. Letztendlich reicht es dann aber auch aus, dass THE MARTHA MITCHELL EFFECT nur an der Oberfläche kratzt. Das macht ihn auf der einen Seite auch für ein nicht amerikanisches Publikum rundherum attraktiv. Auf der anderen Seite bewahrt sich die Filmemacherin eine gewisse Neutralität. Es ist das gezeigte System, welches sich selbst demontiert.
Regie: Anne Alvergue, (co-) Debra McClutchy
Bildschnitt: Anne Alvergue
Musik: Nathan Halpern, Robert Pycior, Chris Ruggiero
USA / 2022
40 Minuten