SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE

Spider-Man ATSV - Copyright SONY PICTURES– Bundesstart 01.06.2023

Es ist schwer bei diesem Film nicht ständig in Superlativen zu reden. Deswegen vielleicht die negativen Kritikpunkte gleich vorneweg. Der Film ist trotz seiner enormen Laufzeit von 140 Minuten immer noch zu kurz. Und das Ende wäre in dieser Form nicht zwingend notwendig gewesen. Oscar und BAFTA 2019 für INTO THE SPIDER-VERSE als bester Animationsfilm waren wohl verdient. Was soll aber in der nächsten Runde von Preisverleihungen mit ACROSS THE SPIDER-VERSE geschehen? Ein Film der sich nicht nur zu der illustren Gruppe von ‚besseren zweiten Teilen’ wie DER PATE II, DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK oder THE DARK KNIGHT gesellt, sondern cineastisch einen vergleichbaren Einschlag verursacht. Reichlich Stoff ist dafür gegeben, schließlich muss die Spider-Society von Earth-928 wieder richten, was Miles Morales von Earth-1610 im Multiversum durcheinander gebracht hat.

Gwen Stacy musste als Spider-Gwen zurück in ihr Universum Earth-65, auch wenn die Beziehung zu Spider-Man Miles mehr als nur ein leichtes Kribbeln war. ACROSS THE SPIDER-VERSE beginnt mit ihrer Geschichte und den Worten: „Jetzt ein letztes Mal…“, gefolgt von ihrem Wertegang mit dem Spinnenbiss. Ein spaßiges Gimmick aus Teil eins, mit dem jede der einzelnen Spider-Inkarnationen vorgestellt wurde. Die immer wiederkehrenden Eckpunkte in der Ursprungsgeschichten jeder noch so individuellen Spinne sind aber mehr als nur witzige Einschübe. In ACROSS werden sie zum elementaren Gegenstand.

Natürlich hört sich so etwas auf dem Bildschirm erste einmal unheimlich kompliziert und verwirrend an. In Zeiten wo alle Superhelden-Ableger mit dem Multiversum spielen, ist man schon jetzt von dem Konzept ermüdet. Korrekterweise ist dieses Konstrukt allerdings den Comic-Vorlagen zu verdanken. Dabei hat sich Spider-Man als Erster des Multiversums bedient, und dies bisher auch am besten verständlich gemacht, gleichzeitig aber konsequent zu Ende gedacht. Demnach ist das Prinzip „höher, schneller, weiter“ bei ACROSS kein Zugeständnis ans Publikum und den Profit, sondern thematisch logisch.

Zu sagen, dieser Film ist pures Kino, wäre tatsächlich zu kurz gegriffen. Dieser Film ist alles, was Film kann und ausmacht. Das schließt experimentelles Kino mit ein, was bereits bei Teil Eins die eigentliche, treibende Kraft war. Das künstlerische Konzept von INTO ist in ACROSS vollständig aufgegangen, und doch ist alles ganz anders. Das erklärt nichts, trifft es aber sehr genau. Die Regie-Spitze wurde abgelöst. Die Handschrift ist ohnehin klar die der Produzenten Phil Lord und Christopher Miller, den beiden LEGO MOVIE Regisseuren. Was die Frage erübrigt, welches Universum wohl Earth-131222 sein mag.

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Das visuelle Design ist wieder maßgeblich, aber stark erweitert. Und es ist überwältigend. Erstaunlich wie die stark voneinander abweichenden Stile in Animation und Grafik eine homogene Ästhetik bilden können. CGI trifft auf Bleistiftzeichnung, auf Aquarellbilder, auf Anime, auf Realfilm, e.t.c.. Es ist großartig, wenn Spider-Punk aus Zeitungsschnipseln lässig den computeranimierten Spider-Man umarmt, oder die Buntstift Faust von Indien-Spider das mit Tinte skizzierte Kinn von Schurke Spot trifft. Ab und an gibt es groß ein Kaboom oder Bang zu lesen, oder es es gibt informative Fußnoten am Leinwandrand. Jede fließende Einstellung kann auch als stehendes Bild aus einem Comic betrachtet werden.

Diese abstrakte Visualisierung wird aber nicht zum Selbstzweck, auch wenn sie die maßgebliche Motivation für die Erzählung ist. Sie bleibt stets übersichtlich und tatsächlich auch nachvollziehbar. Wenn in einer Action-Sequence sechs verschiedene Animationsstile gegeneinander antreten, dann kann man dem Geschehen noch immer wesentlich besser folgen, als bei vergleichbaren Superhelden-Prügeleien. Das liegt aber auch an der sensiblen Inszenierung, die selbstredend in der Action auf extremes Tempo setzt, aber durchweg das richtige Bild in der richtigen Länge trifft. Hut ab vor Cutter Mike Andrews.

ACROSS THE SPIDER-VERSE ist aber kein herkömmliches Action-Ramba-Zamba, dass von gehaltvollen Dialogen unterstützt wird. Es ist genau umgekehrt. Bild und Dialog sind hier keine getrennten Elemente, sondern verschmelzen zu Schauspielkino par excellence. Nicht leicht vorstellbar bei einem Animationsfilm, aber einhergehend mit der penibel realistischen Umsetzung von Gestik und Mimik wird das Zeichentrick-Ambiente kaum noch als solches wahrgenommen. ACROSS ist tatsächlich eine Geschichte mit wahren Figuren und echten Problemen, die auch nie leichtfertig oder mit Plattitdten abgehandelt werden.

Die Thematik um Selbstfindung, Erwachsenwerden, oder Verantwortung ist sicherlich nicht neu, aber wie es hier umgesetzt ist, wird es authentisch und emotional ansprechend. Der Film sprüht vor starken Einzeilern, witzigen Wortspielereien und raffinierten Anspielungen. Aber vor allem hat er echte Dialoge, nicht einfach nur gut gesprochene Statements. Zwischen den Darstellern entstehen echte Tiefen, oder aber spürbare Ablehnung. Das wichtigste ist allerdings, dass die Sichtweisen der erwachsenen Charaktere gleichwertig behandelt und verständlich gemacht werden.

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Die jugendlichen Helden sind nicht zwangsläufig die neunmalklugen Besserwisser, und man zeigt die Sorgen und Ängste der Erwachsenen durchaus auch als begründet. An dieser Stelle kann sich der Schreiber so weit aus dem Fenster lehnen, um zu behaupten das ACROSSS THE SPIDER-VERSE die wohl besten Sprachdarbietungen bietet, die bis dato in einem Animationsfilm zu hören sind. Nicht auf einzelne Schauspieler bezogen, wie bei Robin Williams für ALADDIN, sondern das komplette Ensemble betreffend. Dieser Film wird erneut die Diskussion um eine Oscar-Kategorie für Sprechrollen anheizen.

Ein Soundtrack von bekannten R&B und Rock Songs, von Metro Boomin exzellent stimmig produziert, geht überraschend gut mit Daniel Pembertons ausdrucksstarken Score zusammen. Die Übergänge sind meist fließend und schaffen eine sehr dynamische Atmosphäre. Die musikalische Untermalung passt sich aber auch sehr dezent den ruhigen Charakter-Szenen an. Das macht das Gesamtbild noch faszinierender, weil ACROSS ohnehin in scheinbar allen Szenen immer die richtige Stimmung und den richtigen Rhythmus trifft. Die drei Regisseure wissen genau welche Situation welches Tempo braucht.

Auch der zweite Teil des SPIDER-VERSE gibt sich mit keinem der herkömmlichen Standards zufrieden, auch nicht im Vergleich zu seinem Vorgänger. Jedes der sechs verschiedenen Universen in die es die Helden verschlägt, ist auch von unterschiedlichen Teams gestaltet und gezeichnet. Der visuelle Eindruck steht dabei fast vor dem Overkill. Aber nur fast. Nicht nur der Ideenreichtum in den Originalentwürfen ist grandios, sondern wie die Künstler auch mit Motive aus den Realverfilmungen oder bekannte Details aus den Comic-Vorlagen spielen. Mumbatten und die Spider-Society sind da beim ganz großen Staunen vorne dran.

Wo soll man bei einem Film aufhören, wenn man objektiv seine technische und künstlerische Brillianz gegen seine weniger gelungenen Elemente abwägen soll. Unvermittelt findet man ein scheinbar perfektes Produkt, zumindest innerhalb seines Genres und seiner Intentionen. Der Verdruss über die dominierende Übermacht von Superheldenfilmen ist nachvollziehbar, und wird selbst mit SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE nicht unbedingt Zweifel und Missfallen aus dem Weg räumen. Und es stellt sich auch unweigerlich die Frage, wie viel Film man während eines Films vertragen kann. Die Eindrücke sind schlichtweg überragend, und machen es schwer auf Superlativen zu verzichten. Dieser schreibende Autor hier muss auf alle Fälle noch einmal ran. Nur um zu versuchen etwas bewusster wenigstens annähernd alle Querverweise, Zitate und Anspielungen zu erfassen.

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Sprecher:
Miles Morales: Shameik Moore
Gwen Stacy: Hailee Steinfeld
Peter Parker: Jake Johnson
Miguel O’Hara: Oscar Isaac
Jessica Drew: Issa Rae
Jefferson Davis: Brian Tyree Henry
Jonathan Ohnn: Jason Schwartzman
Hobart Brown: Daniel Kaluuya
u.v.a.

Regie: Joaquim Dos Santos, Kemp Powers, Justin K. Thompson
Drehbuch: Phil Lord, Christopher Miller, Dave Callaham
Bildschnitt: Mike Andrews
Musik: Daniel Pemberton
Produktionsdesign: Kevin Aymeric, Patrick O’Keefe
Grafisches Design: Araiz Khalid
Künstlerische Leitung: Dean Gordon
USA / 2023
140 Minuten

Bildrechte: SONY PICTURES ANIMATION / CTMG
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