– Bundesstart 13.07.2023
Das aktuelle Kinogeschäft liegt leicht unter den Erwartungen. Zu einem entsprechenden Bericht im Branchenblatt Deadline kommentierte ein Benutzer über die Aussichten für MISSION: IMPOSSIBLE: „The 800-pound gorilla enters the room.“ Wie wahr, wurde dieser Film doch tatsächlich in Analysen, Vergleichen oder Kalkulationen nie in Frage gestellt. Wie eine entfesselte Dampflok schob er die Selbstverständlichkeit des Erfolges vor sich her. Doch DEAD RECKONING TEIL EINS ist eher der 600-Pfund Gorilla. Was immernoch fünfzig Prozent über dem Normalgewicht liegt. Die maßgebliche Marketingkampagne war das mediale Aufsehen um den Motorrad-Stunt. Gleich vorweg: Die Fahrt über den Felsvorsprung ist nicht das Aufregendste, was es an Spektakel zu bestaunen gibt.
Das kleine Team der Impossible Mission Force jagt dieses Mal einem Schlüssel hinterher. Nichts Neues im Reich von Agenten-Thrillern. Mit dem Schlüssel lässt sich sozusagen eine Weltuntergangsmaschine stoppen. Auch nicht Neues im Action-Genre. Die Maschine ist eigentlich ein Quellcode für Künstliche Intelligenz. Der Film wurde gedreht, bevor KI begann, im wirklichen Leben Panik zu schüren. Somit trifft DEAD RECKONING einen zeitgeistigen Nerv. Im Film nennt man diesen unsichtbaren Feind die Entität.
Die Entität tut, was aktuell die Welt befürchtet, sie lernt, wird selbstständig und entwickelt ein eigenes Bewusstsein. Der Begriff der Künstlichen Intelligenz wird nur sporadisch zur Auffrischung genutzt, damit sich das Publikum daran erinnert, dass der wahre Feind ein körperloses und ortsunabhängiges Wesen ist. Jeder ist hinter dem Schlüssel her, um die Entität zu beherrschen. Geheimdienste, Söldner, Anarchisten, Taschendiebe, und ein IMF-Team ohne Auftrag. Die Mission wird persönlich, besonders für Super-Agent Ethan Hunt.
Es schwingt eine Stimmung von Schwanengesang mit. Es gibt viel gelungenen Humor, und vor allem sehr viel selbstreferenzielle Lacher. Aber manche Szenen sind nicht so locker, wie sie sein könnten. Lorne Balfe bombastischer Soundtrack lässt auch schon im Vorfeld erahnen, für welchen Charakter es im Verlauf nicht so gut ausgehen wird. Lalo Schifrins Originalthema findet erneut großartige Verwendung. Oft markant, manchmal unterschwellig, ist das Thema ein ständiger Begleiter, welcher die Atmosphäre bestimmt.
Noch intensiver als im Vorgänger FALLOUT, wird Balfes Score zum essenziellen Bestandteil der unablässig treibenden Dynamik in der Inszenierung. Der Score ist mit der Kamera und dem Schnitt im steten Einklang, und sie haben einen durchgängigen Rhythmus gefunden. Selbst die ruhigen Dialogsequenzen passen sich hier stimmig an. Es ist bemerkenswert, in was für einem kompakten Gefüge sich der Film präsentiert. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass DEAD RECKONING vermeidbare Längen hat.
Man merkt die Angst, mit den vielen Wendungen und unberechenbaren Figuren die Zuschauenden zu überfordern. Tatsächlich ist dem nicht immer leicht zu folgen. Vor allem wer warum gerade was macht. Denn der Feind kann Verbündeter sein, oder umgekehrt. Oder ist es am Ende nur Täuschung, die Spezialität der IMF. Regisseur McQuarrie nutzt die dramatischen Dialogszenen, um die bisherigen Ereignisse noch einmal Revue passieren zu lassen. Das kostet Zeit, deren Notwendigkeit nicht zwingend scheint.
Auch wenn DEAD RECKONING seinen immer noch anspruchsvollen Verlauf hält, hätten leichte Kürzungen sehr gut getan. Wenigstens haben Christopher McQuarrie und Co-Autor Erik Jendresen Tragik und Humor ein gutes Stück angehoben. Das Drama ist überhöht, dem Charakter des Films aber immernoch angemessen. Der Witz ist frei von Kalauern und stimmig zu den Situationen. Immer wieder werden die Charaktere mit ihren eigenen Klischees konfrontiert, oder der Frage nach der Rechtfertigung des IMF.
Ein Glanzstück in Belangen des adäquaten Humors in Verbindung mit Adrenalin ist die Jagd mit dem gelben Fiat 500. Action ist eben das, was die Macher von MISSION: IMPOSSIBLE können. Und Action ist genau das, warum die Menschen kommen. Laut und spektakulär sind als Begriffe zutreffend, werden dem aber nie gerecht. Jedes Set-Piece ist ausschweifend, aber kaum zu lang. Es gibt unglaubliche Dinge zu sehen, aber die Kunst in der Reihe ist es immer gewesen, dass Unmögliche einfach real erscheinen zu lassen.
Seit jeher ist das Credo des Hauptdarstellers und gleichzeitig Produzenten, Authentizität zu erzeugen, in dem das Unvorstellbare sichtbar gemacht wird. Tom Cruise ist sein eigener Stuntman, dass ist nichts Neues. Aber auch die anderen Darstellern gehen über sich hinaus. Jede Action-Sequenz ist davon geprägt, dass man auch klar die Schauspieler erkennt. Schnitt und Kameraeinstellung sind explizit darauf ausgelegt. Das steigert die Intensität der Verfolgungsjagden, Kampfszenen und Spannungsmomente ungemein.
Die Schauwerte sind fantastisch. An dieser Stelle könnte man das analysieren, muss man aber nicht. Wie soll man den Ideenreichtum in Worte fassen, mit dem in den Straßen von Rom Verfolgungen und Kollisionen von Autos inszeniert sind. Oder wie atemberaubend ein entgleisender Zug sein kann. Und wo das her kommt, ist noch viel mehr. Vollkommen überzogen, außer Rand und Band, aber derart spektakulär umgesetzt, dass man es nicht in Frage stellen will. Wie den Faustkampf dreier Personen, in einer 80 cm breiten Gasse.
FALLOUT begeistert mit extrem langen Einstellungen innerhalb der Action. Eddie Hamilton hat auch DEAD RECKONING geschnitten. Nur einen einzigen Cutter zu beschäftigen, ist ein leider Novum bei solchen Großprojekten. Aber es bringt eben eine durchgängige Harmonie in den Verlauf. Für diesen Teil bedient sich Hamilton einer weit höheren Schnittrate. Aber immer darauf bedacht, die Orientierung für das Publikum zu gewährleisten. Man sieht immer was die Figuren machen, und wo sie dabei sind.
Es ist wahrlich nicht die ausgefallenste, oder anspruchsvollste Geschichte. Aber es ist das perfekte Handwerk und die künstlerische Finesse in die diese Geschichte eingebettet ist. Was diese Fortsetzung erneut bestätigt. Dazu gehören aber auch Darsteller die nicht nur physisch angemessen scheinen, sondern mit Herz und Verstand in der Rolle aufgehen. Über Tom Cruise muss da kaum noch Worte gewechselt werden. Bei ihm gehen nicht nur Herz und Verstand, sondern sein ganzes Selbst in seinen Filmen, und fürs Kino auf.
Auffallend ist die noch einmal gesteigerte Frauen-Power in DEAD RECKONING. Hayley Atwell, Vanessa Kirby, natürlich Rebecca Ferguson und sogar Pom Klementieff werden in der Handlung ein höherer Stellenwert eingeräumt als den männlichen Darstellern. Und sie füllen das aber auch in atemberaubender Weise aus. Nicht wegen ihrer ansehnlichen Erscheinung, sondern in den beeindruckenden physischen Leistungen. Das soll aber keineswegs Simon Pegg und Ving Rhames‘ gewohnt einnehmende Präsenz schmälern.
Lediglich Esai Morales verfängt sich mit seinem unberechenbaren Antagonisten Gabriel in den Fallstricken von Standard und Stereotyp. Auch wenn die gezeigten Fähigkeiten dieser Figur überaus interessant sind, ist es die Darstellung nicht. Doch wie in diesem Fall, schafft es die unfassbare Kampf- und Stunt-Koordination unter Wade Eastwood, so manche Schwäche vergessen zu machen. Und in dieser überwältigenden Atmosphäre von gebündelter Professionalität geht Regisseur Christopher McQuarrie vollkommen auf.
Vielleicht hat er sich deswegen dazu hinreißen lassen, sein Publikum zeitlich etwas zu strapazieren. Im Allgemeinen weiß er aber genau, wie er seine Szenen auf das höchste Maß an Effektivität aufbauen und ausspielen lassen muss. Und inwieweit er sich auf seine Darsteller verlassen kann. McQuarrie hat soviel spürbare Freude am erhöhten Puls seines Publikums, dass er kaum Raum zum Luft holen lässt. Es gibt genügend Schwächen und fragwürdige Entscheidungen, über man vortrefflich und ausführlich diskutieren könnte. Aber im Gesamten ist MISSION: IMPOSSIBLE – DEAD RECKONING der Beleg für die Notwendigkeit des Kinos. Ohne wenn und aber. The 600-pound gorilla enters the room.
Darsteller: Tom Cruise, Rebecca Fergusson, Vanessa Kirby, Haley Atwell, Ving Rhames, Simon Pegg, Pom Klementieff, Indira Varma, Esai Morales, Shea Whigham, Henry Czenrny u.a.
Regie: Christopher McQuarrie
Drehbuch: Christopher McQuarrie, Erik Jendresen
Kamera: Fraser Taggart
Bildschnitt: Eddie Hamilton
Musik: Lorne Balfe
Produktionsdesign: Gary Freeman
USA / 2023
163 Minuten