– Netflix ab 08.12.2023
– Release 22.11.2023 (limited)
Wie man es dreht und wendet, es war nicht die beste Zeit für Rumaan Alams Roman ‚Leave the World behind‘, als dieser 2020 gerade 6 Monate nach dem weltweiten Shutdown veröffentlicht wurde (in Deutschland 12 Monate später). Als Alam seinen Roman schrieb, war es noch ein cleveres, aber fantastisches Konstrukt. Als ‚Leave the World behind‘ dann veröffentlicht wurde, war er plötzlich aktuelles Abbild einer von abstrakten Umbrüchen verunsicherten Gesellschaft. Der Roman war zu dieser Zeit in seiner unfreiwilligen Aktualität noch gar nicht zu erfassen. Doch selbst dreieinhalb Jahre nach dem Beginn der Pandemie ist es für die Verfilmung noch zu früh, der einhergehende gesellschaftspolitische Wandel ist einfach noch zu nah. Hier könnte sich das Schicksal von Adam McKays bitterböser, aber schnell verdrängten Satire DON’T LOOK UP wiederholen. Auch LEAVE THE WORLD BEHIND, wenngleich als Drama konzipiert, wirft einen ebenso spannenden, wie fragenden, dennoch entlarvenden Blick auf eine orientierungslose Gesellschaft. Aber deswegen ist Sam Esmails Adaption noch lange keine staubtrockene, oder intellektuell überstilisierte Reflexion.
Das weiße Ehepaar Amanda und Clay Sanford gönnt sich eine Auszeit, und mietet sich mit den Kindern Rose und Archie ein luxuriösen Ferienhaus auf Long Island. Das Idyll währt nur kurz, weil am späten Abend der schwarze Besitzer G.H. Scott mit seiner Tochter Ruth vor der Tür steht, und mit fadenscheinigen Erklärungen um eine Möglichkeit zum Übernachten bittet. Die Hautfarbe ist deshalb von Belang, weil diese im weiteren Verlauf immer wieder Thema sein wird, unterschwellig oder offen ausgetragen. Denn Amanda ist ein sehr misstrauischer Mensch, und vieles an H.G.s Geschichte passt einfach nicht.
Die unterschiedlichen Charaktere wirken wie ein repräsentativer Querschnitt der Gesellschaft, in Wesenszügen und Ethnie, so wie dem Alter. Unmut und Vorbehalte werden angesprochen, aber auch Narzissmus oder Selbstlosigkeit ausgelebt. Vieles rührt von den Ereignissen, die erst gar nicht in Verbindung gebracht werden – das Funknetz ist gestört, Satellitenverbindungen unterbrochen, und Unmengen von Wildtieren bewegen sich unbefangen auf dem Grundstück. Es geschehen Dinge, die nicht geschehen sollten. Da konzentrieren sich alle auf die verständlichen, weil nachvollziehbaren Probleme.
Oder diese Probleme werden aufgebauscht. Ist der schwarze Vermieter tatsächlich der Besitzer? Wie kann die pubertierende Rose ohne Netz die letzte Episode von FRIENDS sehen? Die zwischenmenschlichen Beziehungen intensivieren sich positiv oder auch negativ. Gleichzeitig werden die Gegebenheiten immer absurder. Clay findet mit dem Auto nicht den Weg in die Stadt. Ein Flugzeug wirft arabische Flugblätter ab. Das Fernsehen sendet Notfallsignale. Ein normaler Insektenstich ist so toxisch, dass Archie daran zu sterben droht. Schrille Töne aus dem Nichts verursachen lähmende Schmerzen.
Kein Zweifel, das Ende der menschlichen Zivilisation hat begonnen. Nur ist es ganz anders, als es sich die Protagonisten, oder die Zuschauenden vorstellen würden. Das Ende der Welt folgt keiner strukturellen Logik. Es wird auf paradoxerweise unverständlich. Das Publikum vor den Bildschirmen (noch besser: in den Kinosälen) wird dabei in die Rolle des ebenso unwissenden Begleiters versetzt. Der Regisseur gibt seinem Publikum lediglich so weit Wissensvorsprung, dass die tatsächliche Auflösung als eventuelle Möglichkeit erahnt werden kann. Aber eine Gewissheit wird zu keinem Zeitpunkt gegeben.
Die Nerven zerreibende Verunsicherung auf dem Bildschirm (oder Leinwand), wird zum spannenden Diskurs über menschliche Unzulänglichkeiten und die Grenzen des Fassbaren. Der Sog der Faszination wird durch Tod Campbells klare Bildkompositionen noch eindringlicher. Verspielte Kamerabewegungen gibt es nur, um die Übergänge der immer komplexeren Stadien der Erzählung zu signalisieren. Doch primär stilisiert Campbell Gemälden ähnliche Einstellungen, welche die exakte Wahrnehmung der Figuren wiedergeben. Das ist sehr oft erschreckend, aber gleichsam beeindruckend.
Das Flugzeug, von dem sich Clay verfolgt fühlt, oder die Orchestrierung der Mengen von Wildtieren. Es sind Momente, die schon ikonografische Eindrücke schaffen, und durch eben diese Inszenierung eine unwirkliche Atmosphäre aufbauen und erhalten. Das Ende unserer Zivilisation verliert seine bittere Endgültigkeit. Der Film beschränkt sich auf sehr wenige seiner apokalyptisch anmutenden Szenarien. Dafür überzeugt er umso eindringlicher mit einer sehr innovativen Gestaltung dieser Sequenzen. LEAVE THE WORLD BEHIND verweigert sehr erfolgreich ein Katastrophenfilm zu sein.
Es ist ein Film über Menschen, und über ihre charakteristischen Eigenarten, ohne das diese als Schwächen oder Makel aufgezeigt werden. Eigentlich sind es ihre Stärken, weil sie dadurch Individualität als menschliche Qualität demonstrieren. Im Zuge der allgemeinen Verunsicherung brechen nach und nach die Ressentiments zwischen den vier Erwachsenen auf. Fremde werden zu Vertrauten, vor denen man sich nicht verstellen muss. Während das Große und Ganze zu Bruch geht, reflektieren die Figuren ihr Innerstes. Dennoch vermeidet der Regisseur lamentierendes Herz-Schmerz-Drama.
Dank des überaus starken Ensembles, erreicht das Drama eine mitreißende Spannung, die mehr wie ein Mystery-Thriller funktioniert, und nie wie ein totgequatschter Problemfilm. Im Verlauf geht es immer mehr um existenzielle Ängste und Selbstreflexion. Beeindruckende Schlüsselfigur ist die phantastisch nuancierte Julia Roberts, eine nur vermeintlich ziel- und selbstbewusste Frau, die im Angesicht der unerklärlichen Situation langsam die Maske der Arroganz ablegt. Roberts veredelt mit ihrer Präsenz noch die einnehmende Sensibilität in den Leistungen von Mahershala Ali und Ethan Hawke.
Dank gebührt Sam Esmail dafür, dass er auf jede Art von Kommentar zu aktuellen Bezügen verzichtet. Auch satirische Überhöhungen bleiben aus, die sonst bei solchen Themen genutzt werden, wenn Macher ihren selbst entworfenen Szenarien doch nicht gewachsen sind. LEAVE THE WORLD BEHIND bleibt bodenständig und ehrlich, und macht mit seinen packend zu beobachtenden Darstellern die absurd anmutenden Ereignisse absolut glaubwürdig. Der Regisseur nimmt seine Figuren ernst. Somit nehmen auch die Zuschauenden dieses Panoptikum unterschiedlicher Individuen absolut ernst.
Das Ende hat sehr verstörende Qualitäten. Es ist gleichermaßen zynisch wie tröstend, absehbar wie überraschend, es lässt alles offen und doch ist alles erzählt. Diese Verfilmung ist eben keine staubtrockene, oder intellektuell überstilisierte Reflexion, sondern scharfsinnige Betrachtung mit nachvollziehbarer Nähe zum persönlichen Umfeld. Rumaan Alams Geschichte hat mit Sam Esmail und dessen Adaption einen verdammt beeindruckenden Erzähler gefunden.
Darsteller: Julia Roberts, Ethan Hawke, Mahershala Ali, Myha´la, Farrah Mackenzie, Charlie Evans, Kevin Bacon u.a.
Regie & Drehbuch: Sam Esmail
nach dem Roman von Rumaan Alam
Kamera: Tod Campbell
Bildschnitt: Lisa Lassek
Musik: Mac Quayle
Produktionsdesign: Anastasia White
USA / 2023
138 Minuten