– Bundesstart 30.03.2023
Das Feuilleton wird ja nicht müde die Unterschiede zwischen Englands Sherlock Holmes und dem Franzosen Jules Maigret zu betonen. Analytik gegen Empathie. Und auch in diesem Film ist Commissioner Maigret mehr an den Tätern und deren Motivation interessiert, als nur einen Mordfall zu den Akten legen zu können. Und genau in diesen Ansatz setzt bei diesem Fall eine weitere Komponente an. Denn Regisseur Patrice Leconte, der mit Jérôme Tonnerre die Geschichte geschrieben hat, ist bei diesem Film viel mehr an Jules Maigrets Seelen- und Körperheil interessiert. Die Beweggründe des Täters geraten dabei zuerst in den Hintergrund. Erst später vermischt sich die Aufklärung der Ereignisse mit Maigrets ganz persönlichem Antrieb, der eigentlich außerhalb des Falles seinen Ursprung hat. Spannend ist das nicht, eher melancholisch. Von der ersten Filmminute an ist Patrice Lecontes MAIGRET ein durch und durch schwermütiger, manchmal trauriger Film.
Es geht um eine junge Frau, die ermordet aufgefunden wird. Die junge Tote (so der Romantitel, an dem sich der Film nur lose orientiert) wird zum Mysterium, weil nichts an ihr wirklich passen mag. Ein sündhaft teures Kleid, aber ganz billige Schuhe und Tasche, zum Beispiel. Der Kommissar wird erwartungsgemäß mit dem Fall betraut, und zieht ebenso erwartungsgemäß die richtigen Rückschlüsse. Ein zwielichtiges Paar fügt sich noch ein, über das Maigret auf die junge Betty aufmerksam wird, die einen ähnlichen Hintergrund hat, wie die junge Tote.
Wirklich fokussiert ist Lecontes Regie nicht. Wenn das in seiner Absicht ist, hat er der Geschichte nichts dazu gegeben, um sie wenigstens abstrakt zu gestalten. Tatsächlich macht MAIGRET den Eindruck, kein Interesse am Kern der Erzählung zu haben – und das ist eigentlich die Aufklärung des Mordes an der jungen Frau im teuren Kleid und billigen Schuhen. Maigrets eigenes Straucheln mit dem Alter und der Gesundheit nimmt mehr Raum ein, als seine Arbeit. Aber auch hier beschränkt sich das Buch auf beiläufige Dialoge. Konkret wird MAIGRET weder in der Person noch in der Geschichte.
Gérard Depardieu ist fantastisch in dieser kargen Rolle. Man spürt ihn förmlich in seinen Anflügen von depressiver Wehmut, und jedes Wort wiegt bei ihm, als wäre es von unschätzbarer Bedeutung. Aber Leconte führt das in ein Vakuum, wo man als Publikum nicht begreift, was der Regisseur damit ausdrücken möchte. Als seine Frau ist Aurore Clément eigenartig distanziert. Sie und Depardieu haben diese einzigartige Chemie, mit einem wortlosen Verständnis wie sie Jahrzehnte alte Partner besitzen. So werden Beobachter, wie im richtigen Leben auch, kein verstehender Teil dieser Ehe. Allerdings ist das unvorteilhaft in einer Geschichte, wenn sie etwas sagen wollte.
Wenn Maigret die Herumtreiberin Betty für seine Zwecke benutzt, bekommt der Film eine Anmutung von Krimi. Diesen Teil inszeniert Patrice Leconte mit einer überraschenden Spannungslosigkeit. Nicht das der Film überhaupt in einer Szene einen Grad von Spannung aufzubauen versteht. Ihm fehlt auch ein grundsätzliches Fundament von Dramatik. Was auf verdrehte Weise von Yves Angelos Bildern unterstützt wird. Auf das Notwendigste reduzierte Kameraeinstellungen, mit ausgewaschenen Farben ohne Kontrast. Sollte Absicht dahinter stehen, könnte man die fehlenden Statisten als künstlerischen Kniff interpretieren, dessen Intention sich aber nur durch Spekulation erklären ließe.
Vielleicht hat sich Patrice Leconte gedacht, dass auch Commissioner Maigret einen Gegenentwurf zu den gängigen Darstellungen benötige, wie es Detektiv Sherlock Holmes in den jüngeren Verfilmungen erfahren durfte. Letztendlich ist aber der Film im Gesamten ein Gegenentwurf zum populären Kino im Allgemeinen. Wo andere die Chance für innovatives Erzählen nutzen, wie Apichatpong Weerasethakul kürzlich mit MEMORIA, ergibt sich Patrice Leconte der kinematografischen Askese. Wer sich wieder ins Gedächtnis rufen möchte, warum Gérard Depardieu einer der besten Darsteller im französischen Kino wurde, wird hier viel Freude haben. Die Antwort, was den Belgier Georges Simenon zu den beliebtesten Autoren Europas macht, bleibt Regisseur und Co-Autort Patrice Leconte seinem Publikum allerdings schuldig.
Darsteller: Gérard Depardieu, Jade Labeste, Mélanie Bernier, Aurore Clément, Hervé Pierre, Elizabeth Bourgine u.a.
Regie: Patrice Leconte
Drehbuch: Patrice Leconte, Jérôme Tonnerre
nach Georges Simenons ‚Maigret und die junge Tote‘
Kamera: Yves Angelo
Bildschnitt: Joëlle Hache
Musik: Bruno Coulais
Produktionsdesign: Loïc Chavanon
Frankreich, Belgien / 2022
89 Minuten