Cate Blanchett – TÁR

Nominiert für sechs Oscars 2023

TAR - Copyright FOCUS FEATURES– Bundesstart 02.03.2023

Oscar 23Der Besprechung beruht auf der U.S.-amerikanischen Blu-ray-Fassung
Alles was ich sehe, sehe ich durch die Augen von Lydia Tár. Sie ist die erste weibliche Chefdirigentin eines großen deutschen Orchesters. Alles was ich durch ihre Augen sehe ist echt. Wie das Orchester, dargestellt von den Dresdner Philharmonikern, oder Journalist Adam Gopnik vom Magazin The New Yorker. Nur das Interview ist fiktiv, das Gopnik bei einer Podiumsdiskussion führt. Ich merke, dass es Lydia Tár unangenehm ist, wie der Journalist in einer endlos scheinenden Litanei das Wunderkind der klassischen Musik beschreibt und vorstellt. Das sie Protegé von Leonard Bernstein war, zum Beispiel, oder als nächstes die 5. Sinfonie von Gustav Mahler einspielen wird, und auch die baldige Veröffentlichung ihrer Autobiografie ‚Tár on Tár‘. Aber Regisseur Todd Field bricht schon in diesen ersten Minuten aus dem Konzept der Perspektive aus, nur um dann konsequenter dorthin zurückzukehren. Als Zuschauer kann ich nur erahnen, ob Field ein bewusstes Verwirrspiel inszeniert, wenn er mir gewisse Aspekt aus Társ Wahrnehmung vorenthält.

Schon in dieser Podiumsdiskussion gibt es Zwischenschnitte von hinten über das Publikum auf die Bühne, die eine undefinierte Person hervorheben. Da ist auch Lydias persönliche Assistentin, die im Hintergrund den offensichtlich vorgegebenen Text des eigentlich unabhängigen Adam Gopnik mitspricht. Lydia Tár ist ein sehr schwieriger Charakter, bei dem es durchweg spannend bleibt, diesen mehr und mehr zu erkunden. Genauso komplex ist auch Todd Fields szenische Struktur. Vieles von dem was ich sehe, könnte Phantasterei sein. Umso mehr rechtfertigt sich eigentlich die ausufernd scheinende Laufzeit von über 150 Minuten.

TÁR ist mehr als nur das Portrait einer komplizierten Frau, sondern entfaltet sich zu einem breiter gefächerten Drama, dass reale Bezüge in Lydias fiktives Leben integriert. Die allgegenwärtigen Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs nehmen auch in der Welt der klassischen Musik immer mehr Stellenwert ein, was letztendlich ein zentrales Thema in Lydia Társ Geschichte bildet. Placido Domingo als Generaldirektor der Los Angeles Opera oder Musikdirektor der Metropolitan Opera James Levin dürften die bekanntesten Beispiele von Missbrauchsvorwürfen sein, an denen sich Todd Fields orientiert hat.

Allerdings geht es um spekulative Anschuldigungen, und keine erwiesenen Tatbestände. Und das hat mich an TÁR am meisten bewegt, weil er weder Verurteilung noch Freispruch, weder Relativierung noch Zweifel für seine Hauptfigur vorgibt. Ich selbst, muss mich damit auseinandersetzen. Unablässig behalte ich die Perspektive von Lydia, und kann sie dennoch nie wirklich einschätzen. Field deutet vieles an, was mich beschäftigt, was allerdings nicht ermüdend wirkt, sondern fordert. Er fordert und bewegt auf eine fast hypnotische Weise. Das ist aber nur zum Teil auf die Erzählstruktur zurückzuführen. Der wesentliche Beitrag ist die Faszination für die übermächtig wirkende Cate Blanchett.

Selbst im letzten Winkel der Feuilletons dürfte angekommen sein, dass Todd Field ohne Blanchett den Film nicht gemacht hätte, weil er ausschließlich für sie geschrieben wurde. Ein künstlerischer Kraftakt, der nach Fields Erfolg LITTLE CHILDREN. über 15 Jahre andauerte. Und Cate Blanchett ist TÁR, nicht nur die Figur, sondern der Film. Über die gesamte Laufzeit hält die Geschichte eine konstante Spannung, die aber niemals zum Selbstzweck übersteigert wird, oder sich dramaturgischen Leerlauf gönnt. Da mir aber nie erlaubt wird, die Komplexität der Figur im Gesamten zu erfassen, ist aber auch eine unterschwellige und seltsam unangenehme Unruhe ein ständiger Begleiter durch diesen Film.

TAR 2 - Copyright FOCUS FEATURES

 

Eine Besonderheit ist Florian Hoffmeisters Kameraführung, der zum Beispiel Dialogwechsel stets in einer einzigen Kameraeinstellung filmt. Dieser inszenatorische Wechsel innerhalb Monika Willis exzellenter Schnitt-Dramaturgie, ändert nicht die Dynamik des Erzählflusses, aber die Wahrnehmung auf die Darsteller wird konzentrierter. Besonders intensiv kommt das in der Unterrichtsstunde zur Geltung, in der sich Lydia mit einem Studenten eine emotionale Auseinandersetzung zwischen zeitgeistlichen Werten und traditionellem Musikverständnis liefert.

Dieses Streitgespräch ist lediglich exemplarisches Beispiel, wie intensiv die Darsteller mit ihren Figuren regelrecht verschmolzen sind. Die Dialoge kommen aus den Figuren, und nicht aus den Schauspielern. Die Worte werden real und lebendig, und sind keine vom Autor verfassten Zeilen mehr. Das drückt aber die starken Leistungen von Noémie Merlant als Assistentin Francesca, Nina Hoss als Gattin Sharon oder auch die Kurzauftritte von Mark Strong als Dirigentenkollege in den den Schatten der dominant inszenierten Cate Blanchett. Wobei ich dennoch ihrer atemberaubender Nuancen nicht überdrüssig werde.

Auch das das Konzept von Kameraperspektiven und Einstellungsgrößen hat Kameramann Florian Hoffmeister auf Lydia Társ schwankende Empfindsamkeit umgelegt. Wo sich mir Lydia in ihrer Emotionalität nicht offenbart, geben epische Totalen bis hin zu intimen Close-ups Hinweise auf ihre Empfindungen. Von der weltoffenen, stets herablassend überlegenen Künstlerin, hin zur verunsicherten, aus dem Lebenskonzept gerissenen Jederfrau. Wenn Lydia im dritten Akt ihre Komfortzone von arrogantem Selbstschutz verliert, bin und bleibe ich endlich auf ihrer Augenhöhe. Aber mit all ihren Verwirrungen und Selbstzweifeln.

Filmemacher Todd Field gelingt der eindrucksvolle Spagat zwischen Mainstream und Arthouse, bei dem die künstlerischen Ansprüche allgegenwärtig bleiben. Allein das grundlegende Verständnis für das klassische Sujet oder die beeindruckende Sachkunde. Nichts davon wirkt forciert, weil es von den Darstellern mit einem unaufdringlichen Selbstverständnis eingewoben wird, das es scheint, dieser Kenntnisstand wäre über Jahre hinweg studiert worden. In einer wunderbaren Note von Selbstreferenz wird sogar TÁRs Filmkomponisten Hildur Guðnadóttir in einer Reihe mit zwei klassischen Meistern als großartiges musikalisches Vorbild innerhalb der narrativen Welt benannt.

Die Figur Lydia Tár gewinnt trotz nicht zu verkennender männlicher Vorbilder eine absolute Eigenständigkeit. Der Film hat kein Gramm zu viel, jeder Dialog ist wichtig, manchmal profan, oft beißend. Und jedes Bild hat inhaltliche und atmosphärische Bedeutung. Das alles macht TÁR großartig, aber auch atemberaubend, und zwar in beide Richtungen des emotionalen Empfindens. Das Ende der Erzählung, aber nicht das Ende von Lydia Tár, ist zwischen absurd und grotesk angesiedelt, und ist dennoch schlüssig, mit einer bestechenden Logik. Mangels medialer Präsenz, verlieren wir alle immer wieder einmal den Blick für ein vormals explizites Thema. Wie zum Beispiel im Fall James Levin, dessen Schicksal trotz, oder vielleicht sogar wegen der widerlegten Anschuldigungen kaum mehr Interesse hervor rief.

TAR 1 - Copyright FOCUS FEATURES

 

Darsteller: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Julian Clover, Allan Corduner, Mark Strong u.a.
Regie & Drehbuch: Todd Field
Kamera: Monika Willi
Bildschnitt: Florian Hoffmeister
Musik: Hildur Guðnadóttir
Produktionsdesign: Marco Bittner Rossner
USA / 2022
158 Minuten

Bildrechte: FOCUS FEATURES

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Im Kino gesehen abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar