– Bundesstart 14.09.2023
– Release 13.09.2023
Was zuerst auffällt, ist die Bildgestaltung, sprich das Bildformat. Kenneth Branaghs Stammkameramann Haris Zambarloukos hat sich hier für das digital fotografierte 1,85:1 Format entschieden. Dabei hat Branagh noch zu MORD IM ORIENT-EXPRESS angekündigt, ein in sich geschlossenen Hercule Poirot Universum entstehen zu lassen. Natürlich ein Universum, was sonst. Nur zwei Filme später, nach TOD AUF DEM NIL, wird dann schon mit einer künstlerischen Kontinuität gebrochen. HAUNTING IN VENICE verzichtet auf die kraftvolle Opulenz des 65 mm Filmmaterials im 2,39:1 Format. Und das ausgerechnet an einem Ort wie Venedig, wo der Regisseur darauf bestand, an so vielen Original Schauplätze wie möglich zu drehen. Wie man diese Drehorte von Touristen und anachronistischen Störmitteln befreite, ist überwältigend. Besonders die letzte Einstellung zeigt ein Venedig, wie es die meisten in dieser puren Pracht wirklich noch nicht gesehen haben dürften. Dorthin hat es den Meisterdetektiv Poirot verschlagen. Durch die Schrecken des Krieges verbittert, hat er sogar seiner meist selbstgefälligen Enthüllungsaffinität entsagt.
Poirots alte Freundin und Schriftstellerin Ariadne Oliver, Stammgast in den Romanen, aber ihr erste Auftritt in der Branagh-Reihe, kann den müden Detektiv dann doch locken. Er soll der Séance des weltberühmten Mediums Mrs. Reynolds beiwohnen, und deren Fähigkeiten bestätigen, mit dem Jenseits in Verbindung treten zu können. Denn wenn ein Hercule Poirot das Medium nicht widerlegen kann, muss ihr Können real sein. Von Anfang an herrscht eine getragene, sehr melancholische Stimmung, die Regisseur Branagh bis auf die letzten Minuten aufrecht erhält. Bei ihm wird Venedig zu einem traurigen Ort.
Selbst die Heerschar der tobenden Kinder während der Halloween Party im Palazzo der Gastgeberin Rowena Drake, sind auf der Tonebene merklich unterdrückt. Die Farben sind lange nicht so kraftvoll wie bei ORIENT-EXPRESS oder NIL. Die Absicht starke Anleihen beim Horrorfilm zu nehmen, erkennt man umgehend. Allerdings zeigt der eigentlich pragmatische Regisseur mit der Dualität der Geschichte kein zufriedenstellendes Feingefühl. Der von Agatha Christie bekannte, und von Branagh geschätzte Rätselspaß, will sich nicht organisch mit den stark ausgeprägten Horrorelementen verschränken.
Poirot gelingt es nicht, Mrs. Reynolds als Betrügerin zu entlarven. Was im Umkehrschluss bedeuten müsste, dass das Übersinnliche real wäre. Das lässt den Meisterdetektiv an seinem Weltbild zweifeln. Doch dann kommt das Medium plötzlich zu Tode. Poirot verriegelt den Palazzo persönlich, denn ein Mörder muss entlarvt, und seine Ideologie wieder gerade gerückt werden. Das betrifft natürlich das Christie-typische Panoptikum von zwielichtigen Figuren und unschuldig scheinenden Personen. Aber richtig mysteriös ist keine von ihnen, damit sind die falschen Fährten nicht allzu schwer zu durchschauen.
Von der illustren Schar fällt allerdings nur Jamie Dornan wirklich ins Gewicht, der als kriegsgeschädigter Vater die interessanteste Figur darstellt. Weder Kelly Reilly als trauernde Mutter, noch Michelle Yeoh in der Rolle des Mediums werden nach ihren Möglichkeiten gefordert. Und auch Komödiantin Tina Fey, für die es nicht die erste ernste Rolle ist, wirkt als überhebliche Schriftstellerin nicht wirklich so, als ob sie sich tatsächlich eines Hercule Poirot ebenbürtig erweisen könnte. Der Regisseur führt seine eigene Tradition des opulenten Star-Vehikels fort, scheitert hier aber am eigenen Anspruch.
Branagh bringt die zwei Genre-Ebenen nicht in eine fließende Struktur. Orts- und Szenenwechsel sind sprunghaft, genauso fehlt ein ansteigender Spannungsbogen. Dramatische Spitzen verlieren viel zu schnell ihre Wirkung. Das Drehbuch von Branagh und Michael Green (ORIENT-EXPRESS und NIL) lässt das Publikum nie wirklich selbst sinnen und reflektieren, sondern wird von Poirot allein in Anspruch genommen. Allerdings wird jedes enträtselte Mysterium eher beiläufig abgehandelt, während sich die Spukmomente viel zu aufdringlich am modernen, uninspirierten Schocker bedienen.
Ohne Zweifel sind die Jump Scares sehr wirkungsvoll, doch muss die zweifelnde Frage gestattet sein, ob dies der Autorin, den Büchern und dem Genre gerecht wird. Orientiert an Branaghs bisherigen Arbeiten und an den Vorlagen von Christie, hätte dem HAUNTING IN VENICE eine klassische, wundervoll schaurige Gruselatmosphäre richtig gut getan. Der Shakespeareianer Branagh hat mit seinen zwei Christie-Vorgängerfilmen den Geist der opulenten Epen mit Peter Ustinovs Poirot erfolgreich heraufbeschworen. Sich aber einen dieser Stoff so exzessiv anzueignen, ist dem Film nicht bekommen.
Mit der Romanvorlage hat HAUNTING IN VENICE nur vereinzelte Schlagworte gemein. Was ihn allerdings nicht zu einem grundsätzlich schlechten Film macht. Fast möchte man sagen, es ist ein guter Film. Aber er bleibt einfach weit hinter den Möglichkeit eines Charakter-Regisseurs wie Kenneth Branagh und einer raffinierten Erzählerin wie Agatha Christie. Dafür macht die verkündete Absicht eines ganzen Poirot Universums Hoffnung. Denn inszenieren kann der selbstbewusste Ire durchaus, eigentlich sogar verdammt gut.
Darsteller: Kenneth Branagh, Kyle Allen, Camille Cottin, Jamie Dornan, Tina Fey, Kelly Reilly, Michelle Yeoh, Emma Laird, Jude Hill Ali Khan, Riccardo Scamarcio u.a.
Regie: Kenneth Branagh
Drehbuch: Michael Green
nach dem Roman von Agatha Christie
Kamera: Haris Zambarloukos
Bildschnitt: Lucy Donaldson
Musik: Hildur Guðnadóttir
Produktionsdesign: John Paul Kelly
USA / 2023
103 Minuten