DE USKYLDIGE
– Bundesstart 14.02.2022
Was immer die wahre Intention hinter Eskil Vogts THE INNOCENTS gewesen sein mag, er macht zumindest deutlich, dass Kinder keine liebenswerten Geschöpfe sind. Seine Geschichte ruht auf der schlichten Erkenntnis, dass sich Erwachsene immer dem Blick auf ihre eigene Kindheit verschließen. Damit bleibt eine stete Unschuldsvermutung bestehen. Mühsam um Worte ringend, versucht ein Vater seiner neunjährigen Tochter eine Gedenkstätte für einen getöteten Jugendlichen zu erklären. Das die Kleine an dem Mord beteiligt war, würde niemanden in den Sinn kommen . Sehr präzise zeichnet Vogt die unbedarfte und unvoreingenommene Neugierde nach, die Kinder oft über die Stränge schlagen lässt. Und das garantiert sehr viel Gänsehaut, wenn man sich auf skandinavische Rationalität einlassen kann.
Genau zu Beginn der Sommerferien zieht die kleine Ida mit ihrer Familie in einen riesigen Wohnkomplex irgendwo von Norwegen. Idas ältere Schwester Anna ist autistisch, scheidet als Spielgefährtin also aus. Obwohl die meisten Familien in den Urlaub verreist sind, findet Ida dennoch in Ben einen gleichaltrigen Freund, der sie sofort mit seinen telekinetischen Fähigkeiten amüsiert. Unbeachtet von den Erwachsenen, experimentieren die beiden immer intensiver mit Bens Gabe.
Genre Freunde werden sicher ihre Schwierigkeiten haben, mit THE INNOCENTS richtig warm zu werden. Aber Filmemacher Eskil Vogt bleibt dem Stil treu, der skandinavische Filme schon immer sehr überraschend macht und angenehm vom bevorzugten Mainstream abhebt. Zuerst einmal verankert er das gesamte Geschehen in eine durchweg gewöhnliche Umgebung. Und dann lässt er sich Zeit, vielleicht etwas zu viel Zeit. Allerdings gewinnt der Verlauf dadurch eine sehr intensive Atmosphäre.
Ohne Zweifel werden nicht nur Genre Freunde mit der Zeit in Konflikt geraten, aber Vogt will wirklich nichts überhasten, den Lauf plausibel halten, in das Übernatürliche eine nachvollziehbare Natürlichkeit bringen. Wegen ihrer ähnlichen Begabung wird die ebenso alte Aisha auf Ida und Ben aufmerksam. Aber Aisha hat auch die Möglichkeit mit der sonst nicht zur Kommunikation fähigen Anna telepathischen Kontakt aufnehmen. Es ist ein Vierergespann, dass in seiner unbekümmerten Naivität schnell die Kontrolle verliert.
Gleich nach der Premiere wurden Vorwürfe laut, wie viele andere Filmemacher auch, würde Eskil Vogt Autismus nur für das billige Klischee des übernatürlichen Mediums missbrauchen, anstatt die Thematik angemessen zu behandeln. Die Vorwürfe sind natürlich Unsinn, weil haltlos im Sinne der Geschichte. Angemessene Beachtung sollte man der ungewöhnlichen Atmosphäre schenken, mit der Vogt seinen Film umsetzt.
Für einen Horrorfilm oder Psychothriller, je nachdem wie man THE INNOCENTS einordnen möchte, ist es ein Novum das Geschehen hauptsächlich draußen bei Tageslicht zu inszenieren. Die sehr spärlichen Nachtaufnahen verstärken diese grundsätzliche Atmosphäre nur. Wird anderorts mit dem Sonnen beschienene Tag ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, erzeugt er hier im Einklang mit dem unbeachteten Treiben der vier Kindern einen unbehaglichen Schauer am Rücken.
Der gigantische von Wäldern umgebene Wohnkomplex ist wie ein Charakter für sich. Mit elegischen Flügen geht die Kamera an der Fassade entlang, oder fokussiert unbestimmte Fenster. Manche Aufnahmen sind auf den Kopf gestellt, was durch die Symmetrie der Architektur nur unterbewusst auffällt. Letztendlich bleibt aber unklar, ob das Gebäude oder die Wälder für den übernatürlichen Einfluss verantwortlich sind. Oder sind sie am Ende nur ein Spiegel für die Normalität in der die Handlung Platz nimmt.
Dadurch dass das Leben um sie herum einfach weiter geht, ungewöhnliche Vorkommnisse nicht in Frage gestellt werden, kein Verdacht auf irgendwelche Zusammenhänge fällt, sind die Kinder frei in ihrem Handeln. Wer würde die obskuren Ereignisse schon mit ihnen in Verbindung bringen? Das sind die wirklichen Gänsehaut-Moment in THE INNOCENTS. Die vier Kinder sind auch nie klüger oder raffinierter als die Erwachsenen, nichts in ihrem Tun unterscheidet sich von anderen in ihrem Alter. Das macht den Film dann richtig gruselig.
Vogt verwendet keine überdrehten Toneffekt, keine gruseligen Versatzstücke, verzichtet auf das, was den massentauglichen Horrorfilm so beliebt macht, und erreicht so eine ganz andere Ebene an Grauen. Im Showdown kulminiert auch das komplette Szenario. Wenn man sich als rationaler Zuschauer eingestehen muss, dass man der Anwesenheit der vier speziellen Kindern und ihrem übernatürlichen Tun ebenfalls keinerlei Beachtung schenken würde. So wie im Film die vielen Mütter und Väter mit ihren Kindern auf den Spielflächen, in deren Mitte ein unvorstellbarer Kampf stattfindet.
Darsteller: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf, Mina Yasmin Bremseth Asheim und Ellen Dorrit Petersen, Morten Svartveit, Kadra Yusuf, Lisa Tønne u.a.
Regie & Drehbuch: Eskil Vogt
Kamera: Sturla Brandth Grøvlen
Bildschnitt: Jens Christian Fodstad
Musik: Pessi Levanto
Produktionsdesign: Simone Grau Roney
Norwegen – Schweden – Dänemark – Finnland – Frankreich – Großbritannien
2022
117 Minuten