– Kinostart 14.07.2022
– Netflix 22.07.2022
Alleine an der Straßenbahn-Sequenz sieht man wie aufregend THE GRAY MAN hätte werden können. Viele kleine, nette Ideen, die in einem Alptraum von Schnitt und Kamerabewegungen leicht untergehen. Wenn Sierra Six über die Spiegelung einer vorbeiziehenden Fensterfront seinen unter ihm nicht direkt sichtbaren Gegner erschießt, wäre das bei so manchen Filmen ein Abschluss auf höchstem Thriller-Niveau gewesen. Hier verliert sich ein genialer Einfall in einer Menge von unzähligen, genialen Einfällen. Die Russo-Brüder Joe und Anthony haben ja nach zwei CAPTAIN AMERICA-Filmen und den abschließenden zwei Teilen INFINITY WAR und ENDGAME des MCU freie Hand bei allen selbst produzierenden Streaming-Portalen. Und scheinbar auch die meisten Darsteller aus dem Marvel-Universum lassen sich davon mitreißen. Bei EXTRACTION und CHERRY wurde diese freie Hand noch zum Besten von cleveren und mit Finesse umgesetzten Filme genutzt.
Ryan Gosling als stoisch kalkulierende Killermaschine für verdeckte Operationen will man natürlich sehen, da hat Nicolas Winding Refns DRIVE perfekte Vorarbeit geleistet. Und man nimmt ihm dass nicht nur physisch ab, sondern vor allem im Spiel. Eine Eliminierung ist für ihn ganz offensichtlich nicht einfach nur ein Auftrag, auch wenn sein Sierra Six dies mit zügiger Präzision erfüllt. Gosling kann das, bringt exakt die Menge an Gefühl, die an seinen Charakter glauben lässt.
Chris Evans genießt in vollen Zügen, ganz weit weg vom Image des Captain America zu sein. Seine Spielfreude steckt an, auch wenn er als Lloyd Hansen gründlich über die Stränge schlägt. Wie Evans wütet, foltert, rücksichtslos Leben opfert hat viel anarchischen Anziehungskraft. Allerdings ist er auch der Charakter, der dem Film seinen dürftigen Rest von Glaubwürdigkeit raubt. Der Freiberufler darf im Auftrag des CIA seine Jagd nach Six so aufwendig gestalten, dass jede Verhältnismäßigkeit gesprengt wird.
Worum es in THE GRAY MAN geht, wird im Verlauf zunehmend irrelevant. Genau wie der Titel selbst, der nach einer kurzen Erklärungen bedeutungslos wird. Genauso bedeutungslos wie ein Billy Bob Thornton, der als Sierra Six‘ Mentor eine vaterähnliche Figur einnimmt. Als ehemaliger Rekrutierer für verdeckte Operationen, verkommt Thornton zur emotionalen Rechtfertigung für Six und Lloyd Hansen, halb Osteuropa in Schutt und Asche zu legen.
Es schmerzt, dass die Russos den Zuschauer auch noch um einen befriedigenden Showdown zwischen Gosling und Evans betrügen. Die Location eines Wandelgartens, der in Wirklichkeit aber nicht im Château de Chantilly, France zu finden ist, bildet einen verspielten Kontrast mit widersprüchlicher Eleganz zu der tödlich maskulinen Konfrontation der Kontrahenten. Wichtig war den Russos dabei lediglich der Testosteron-Gehalt, um dann doch im letzten Atemzug den Mut für ein radikal kreatives Ende zu verlieren.
THE GRAY MAN ist ein atemberaubender Ritt, der zwischen Augenzwinkern und dezidierter Selbstüberschätzung die Grenzen des Action-Kinos ausreizt. Ohne Anlauf erreicht der Film eine Drehzahl wo die Gesetze von Physik umgehend in die Schädeldecken von Fußsoldaten verschossen werden. Die Körperlichkeit und der materielle Aufwand bekommen übernatürliche Züge. Das ist alles unheimlich aufregend, wahnsinnig unterhaltsam, und manchmal weit über jeder Aufnahmefähigkeit.
Dieser Film besteht aus unzähligen, kleinen Höhepunkten in Darstellung, Aktion, Humor und Materialschlacht. Nur können Joe und Anthony Russo dies nicht vernünftig zusammenbringen. Unentwegt verliert sich der Film in hyperaktiven Schnitten und frenetischen Kameraeinstellungen. Die Brüder überfrachten ihren Film mit derart vielen Schauwerten, dass nicht ein Funken Glaubwürdigkeit in Tun und Handeln der Protagonisten übrig bleibt.
Was an Sinneseindrücken einstürzt verkehrt den Film von Begeisterung in Ermüdung. Die Choreographien sind atemberaubend, aber nicht menschlich nachvollziehbar. Es wird nicht besser, dass Joe Russo mit Christopher Markus und Stephen McFeely ihre Handlung in eine Geschichte eingebettet haben die für 99 Cent bei Story-Resterampe zu holen war. Der loyale Mentor, das ans Herz gewachsene Kind, die streitfähige Flügelfrau, der verräterische Chef, die wankelmütige Vertreterin des Guten.
Wie die meisten Netflix Produktionen, wurde auch THE GRAY MAN in Billigfilmländern gedreht, um die fadenscheinige Illusion von internationaler Weite zu suggerieren. Das ist durchaus legitim, und macht auch Freude, wenn die Produktion weiß was sie tut. Anthony und Joe Russo haben hingegen einen Film gedreht, der extrem kurzweilige Unterhaltung bietet, aber sonst keinerlei Eigenständigkeit besitzt, die über den nächsten Film hinaus in Erinnerung bleibt. Außer vielleicht Ryan Gosling, Chris Evans oder Billy Bob Thornton, deren Talente vollkommen verschenkt werden.
Darsteller: Ryan Gosling, Chris Evans, Ana de Armas, Billy Bob Thornton, Jessica Henwick, Dhanush, Alfre Woodard u.a.
Regie: Anthony Russo, Joe Russo
Drehbuch: Joe Russo, Christopher Markus, Stephen McFeely
Kamera: Stephen Windon
Bildschnitt: Jeff Froth, Pietro Scalia
Musik: Henry Jackman
USA, Tschechien / 2022
122 Minuten