– Bundesstart 03.03.2022
Besprechung basierend auf der britischen Blu-ray Fassung
William war 8 Jahre im Gefängnis. Erst später werden wir erfahren, wofür er gesessen hat. Im Gefängnis hat er gelernt beim spielen Karten zu zählen. In Freiheit verdient William damit seinen Unterhalt, diese hohe Kunst, die Casino-Betreiber in den Wahnsinn treibt. Später werden wir erfahren, warum man William bei Kartenzählen nicht erwischt. Wir erfahren alles irgendwie später. Langsam baut sich der Charakter für einen auf. Wir lernen ihn kenne, wie man einen neuen Bekannten kennenlernt. Und dann enttäuscht er auch nicht diese zarte Freundschaft, die zwischen Auditorium und Leinwand entstanden ist. Keine von Paul Schraders Figuren enttäuscht. Niemand entpuppt sich überraschend als Gegenspion, keiner zaubert plötzlich Unwahrscheinlichkeiten aus dem Zylinder. Das hat der Filmautor nie gemocht, nie gebraucht, und hätte er auch nicht nötig.
William zieht durchs Land von Casino zu Casino, und gewinnt Summen, die keine Aufmerksamkeit erregen. AberTalente wie er wecken Begehrlichkeiten. Eine alte Bekannte, LaLinda, vertritt Investoren, die gute Spieler mit hohen Beträgen sponsern. Hohe Gewinne werden geteilt, Verluste muss der Spieler selbst tragen. Es ist ein gewagtes Geschäft, dass nur selbstbewusste Spieler eingehen. William will das nicht, bleibt lieber unter dem Radar. Doch dann trifft er auf Cirk, mit dem William einiges verbindet. Cirk verfolgt ein selbstmörderisches Ziel, dass William glaubt mit viel Geld abwenden zu können.
Der Film beginnt mit einem auffallenden Titelvorspann. Er orientiert sich an den Titeln, von Filmen vor den 1980ern, als alle Hauptbeteiligten bereits am Anfang des Film erwähnt wurden. Diese, wie so viele Kleinigkeiten und unbedeutend erscheinende Details bei CARD COUNTER, ist das Paul Schraders Ehrerbietung an die Kunst des Filmemachens und seine großen Vorbilder im Geschäft, die in all seine Arbeiten einfließt. Wie zum Beispiel das im Film nie erklärte, aber von William zelebrierte Verhüllen aller Möbelstücke in einem Motelzimmer.
CARD COUNTER baut sofort eine vibrierende Spannung auf, die kaum nachlässt. Der Handlungsverlauf verändert ständig seine Gewichtung, weil sich erst durch den Aufbau der Figuren deren Motivationen erschließen. Aber selbst dann, überkreuzen sich immer wieder die Handlungsweisen der diversen Mitspieler. Im sich stetig steigernden letzten Akt wird klar, dass nicht jeder Charakter seinen dem Zuschauer bekannten Prinzipien treu bleiben kann, ansonsten müssten andere darunter leiden. Am Ende fordert die Geschichte eine Opferrolle, es bleibt aber ungewiss wem sie letztendlich zufallen wird.
Wenn sich im zweiten Akt eine erweiterte Erzählebene eröffnet, tritt man erst einmal einen Schritt zurück. Im ersten Moment will das Sujet des mysteriösen Pokerspielers einfach nicht mit der Komponente von William Tells wahren Verbrechen zusammen passen. Aber Schraders unbeirrt geradlinige Inszenierung, lässt das sehr schnell wie selbstverständlich ineinandergreifen, und macht es auch stimmig. Und, ja, auch das selbsterwähnte Pseudonym William Tell ist eine von Schrader beabsichtigte Anlehnung.
Im Vorfeld haben viele Kritiker den CARD COUNTER mit Schraders Drehbuch von TAXI DRIVER verglichen. Wobei es viel leichter wäre diesen Film neben Schraders verkannten Meisterwerk AMERICAN GIGOLO zu stellen. In GIGOLO fragt die Kundin ihren Escort-Service, woher er käme, worauf er erwidert, „hier aus diesem Bett“. Genau so ein Mann ist auch William Tell, der aus dem Moment kommt, der gar nicht viel mehr sein kann, als die Person in diesem Augenblick.
Gänsehaut verursacht die Vorstellung, dass Shia LaBeouf und Nicholas Cage zuerst für die Rolle des stoischen Spielers vorgesehen waren. Was sich, wenngleich ohne wirkliche Vergleichsmöglichkeit, mit Oscar Issac wohl zum Besten gewandt hat. William Tell ist für Isaac ein weiterer Charakter in einer mittlerweile langen Liste von Figuren, die ihn als einen der stärksten und vielseitigsten Darsteller dieser Tage beweist.
Isaac ist zweifellos das Kernelement der Erzählung. Der Film wäre aber ziemlich einsam ohne Tiffany Haddish, in ihrer unerwartet ernsten, und bravourös gespielten Rolle der LaLinda. In ihr findet der Film eine nicht zu unterschätzende, tragende Säule. Und um dem noch einmal eines drauf zu setzen, muss man noch Tye Sheridan erwähnen. Als orientierungsloser Cirk mit naiver Weltvorstellung, muss sich Sheridan gar nicht gegen seine Mitspieler behaupten, vielmehr vervollständigt er stimmig und mit sehr ausgeprägter, individueller Präsenz das überzeugende Ensemble.
Die Atmosphäre ist nüchtern, aber nie unterkühlt. Die musikalische Untermalung von Robert Levon Been und Giancarlo Vulcano wecken angenehme Erinnerungen an den längst vergangenen Film Noir. Die melancholischen Klänge halten einen stets in einem wachsamen Zustand, weil eben die tonale Ebene die eigentliche Atmosphäre wiedergibt. Wenn sich dann noch während einer Autofahrt Bilder des Fahrers und Aufnahmen aus der Sicht des Fahrers immer wieder überblenden, hat Paul Schrader das moderne Kino endgültig hinter sich gelassen.
Nicht das dieser sehr eigensinnige Regisseur sich in den alten Tagen festgesetzt hätte. Ganz im Gegenteil, er beweist sehr gut sein Gespür für den aktuellen Standard des Spannungskinos, in dem er so manche Versatzstücke sehr geschickt und bewusst umgeht. Er zeigt mit CARD COUNTER, wie spannend man einen Film inszenieren kann, ohne mit verzwickten Wendungen und blutigen Exzessen spielen zu müssen.
Darsteller: Oscar Isaac, Tye Sheridan, Tiffany Haddish, Willem Dafoe u.a.
Regie & Drehbuch: Paul Schrader
Kamera: Alexander Dynan
Bildschnitt: Benjamin Rodriguez Jr.
Musik: Robert Levon Been & Giancarlo Vulcano
Produktionsdesign: Ashley Fenton
USA – Großbritannien – Schweden – China / 2021
111 Minuten