– Bundesstart 14.04.2022
Sean Baker hat ein Faible für Menschen die am Rande der Gesellschaft leben. Laut eigener Aussage würde er sich weigern jemals in einem künstlichen Set zu drehen. Der Filmemacher will bei den Dreharbeiten das Gefühl haben, dass seine Geschichten tatsächlich an jenen Orten passiert sein könnten. Das sind reizvolle Worte, die sich bei anderen Parteien stark nach anbiedernder Kunst anhören würden, oder nach der Einsicht, dass ohnehin die Budgets auch in Zukunft zu knapp für aufwendigere Filme sein werden. Aber bei Sean Bakers Themen und filmischer Ästhetik war es zweifellos eine produktive Entscheidung. Wie sonst könnte man diesem aufdringlichen Schwätzer und Betrüger Mikey Davies seine Geschichte auch sonst abkaufen, ohne dass sie lächerlich werden würde. Dessen 2000 Filme, 6 Preise und 13 Nominierungen als Porno-Darsteller machen in einem Arbeiter-Kaff wie Texas City Eindruck, aber geschenkt bekommt er dafür nichts.
Im wirklichen Leben hat Hauptdarsteller Simon Rex ebenfalls in der Erwachsenen-Industrie gearbeitet. Sein offener Umgang damit hat gleich einmal jeden Wind aus den Segeln genommen, für die, die immer versuchen Skandale auszugraben wo keine sind. Das Multitalent ist MTV Moderator, Musiker, Model, Schauspieler, und war schon Jahre vor Drehbeginn Sean Bakers erste Wahl für Mikey Davies, mit dem Künstlernamen Mikey Saber XXX.
Was genau in Los Angeles passiert ist, erfahren wir nicht. Aber Mikey kommt nach Texas City und steht unerwartet vor der Tür seiner noch-Ehefrau Lexi. Sie war bereits einige Jahre früher aus L.A. zurückgekehrt, wo sie sich mit Mikey als Paar vor der Kamera präsentiert hatte. Die allgemeine Begeisterung über die Rückkehr des heruntergekommenen und mittellosen Mikey hält sich in Grenzen. Das beeindruckt den ständig optimistischen Schmarotzer aber keineswegs, weil er an sich glaubt, und die ihm entgegengebrachte Abneigung gar nicht wahr haben will.
RED ROCKET ist gleichzeitig eindringliche Milieustudie, wie beeindruckendes Portrait eines glücklosen Glücksjägers. Aber von bedrückender Atmosphäre und finsteren Momenten ist der Film weit entfernt. Er ist sogar zum Teil schreiend komisch, und dennoch keine Komödie. Es ist einer jener Filme bei denen man schnell merkt, dass er nur wegen des innigen Verständnisses zwischen Darsteller und Regisseur erfolgreich ist. Wenn der rastlose Charakter von Mikey auf andere einredet, spricht er auch uns im Publikum direkt an.
Wir durchschauen ihn. Alle anderen auf der Leinwand sind mit Charakteren wie Mikey lange vertraut. Aber wir erkennen ihn nur als Schwätzer und Nassauer, nicht aber in seinen Zielen. Und Sean Baker lässt uns auch nicht hinter die Fassade seiner anderen Figuren sehen. So gewinnt RED ROCKET eine ungemein spannende Atmosphäre, verweigert sich aber aller Plattitüden von künstlich gestalteten Gewalt- oder Gefahrensituationen die dem Raum von Sozialhilfeempfängern zwecks emotionaler Schauwerte gerne angedichtet werden.
Das Bildgestalter Drew Daniels auf 16mm-Film drehte, ist ein Gimmick das lediglich in Nachtaufnahmen und Innenräumen einen semi-dokumentarischen Stil erreicht. Dafür ist Daniels Kameraführung ziemlich beeindruckend. Wenn Mikey mit seinem geschnorrten, viel zu kleinen Damenrad durch die Stadt fährt, erweckt das stets den Eindruck als hätte er sich wahrhaftig den leerstehenden Geschäften und aufgelassenen Tankstellen gelöst. Die Umgebung ist in statischen Bildern festgehalten, während Mikey ständig in Bewegungen, seine Umwelt nicht wahrzunehmen scheint.
Die anziehende Wirkung und bezaubernde Ausstrahlung von RED ROCKET lässt sich eher empfinden als beschreiben. Was als Empfehlung verstanden werden soll, wenn man bereit ist sich auf einen Menschen wie Mikey ‚Saber‘ Davies einzulassen, der es mit mehr als 1300 Frauen getan hat, mehr oder weniger. Wer behält da schon den Überblick. Mit einer Ehrlichkeit von Sean Baker und dem einehmenden Charisma eines Simon Rex, braucht es dann tatsächlich kein großes Budget für großes Kino. Allerdings hätte RED ROCKET unter der Ägide eines größeren Studios eine angemessenere Laufzeit bekommen, denn 130 Minuten sind definitiv zu lang.
Darsteller: Simon Rex, Bree Elrod, Brenda Deiss, Sophie, Suzanna Son, Ethan Darbone, Brittney Rodriguez, Judy Hill u.a.
Regie & Bildschnitt: Sean Baker
Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch
Kamera: Drew Daniels
Produktionsdesign: Stephonik
USA / 2022
130 Minuten