Mrs HARRIS GOES TO PARIS
– Bundesstart 10.11.2022
Dies ist ein Film der direkt aus der Zeit zu kommen scheint, in der er spielt. 1958 erschien das Buch des amerikanischen Schriftstellers Paul Gallico, dem drei weitere Romane mit der selben Hauptfigur folgten. Es gab Fernsehfilme, auch Bühnenfassungen, aber in all den Jahrzehnten blieb eine größere Kinoproduktion aus. Regisseur Anthony Fabians Adaption verdeutlicht auch warum. Filme die auf humoristische Weise und im erzählerischen Stil den Geschichten von Mrs. Harris ähnlich sind, wurden seinerzeit am Fließband produziert. Debbie Reynolds und Doris Day lassen mit Cary Grant und Jack Lemmon herzlich grüßen, und dabei hat man sich dem deutschen Komödienalltag mit Heinz Erhardt noch nicht einmal angenähert. Auf das despektierliche ‚Mrs. ‚Arris‘ im Titel hat man verzichtet, das wahrscheinlich den durchschnittlichen Franzosen weniger gestört hätte, als den unbefriedigenden Moralapostel aus anderen Landen. Aber es geht auch nicht um Befindlichkeiten, sondern um den Geist einer anderen Zeit, den Anthony Fabian so wunderbar eingefangen hat.
Die Versuchung ist groß, Lesley Manville die beste Rolle ihrer bisherigen Laufbahn zu attestieren. Das ist die Figur der Ada Harris eigentlich nicht, aber eine gewisse überschwängliche Begeisterung ergibt sich einfach aus dem Gesamtwerk. Dies ist dann wieder mit Manvilles unfassbarer Leichtigkeit zu spielen, unumstößlich verbunden. Die aufopferungsvolle Kriegswitwe Ada, die für wenig Lohn und noch weniger Anerkennung bei anderen Haushalten putzt.
Ihre nicht zu unterdrückende Neigung ist es, sich um andere zu kümmern. Und selbst als sie fest entschlossen ist, endlich einmal etwas nur für sich zu tun, werden im Windschatten dieses Vorhabens Probleme anderer gelöst, oder deren Leben positiv verändert. Fabian setzt das mit so entwaffnenden Charme in Szene, dass jeder auch die vorhersehbarsten Situationen mit verständnisvollem Lächeln akzeptiert. Nicht ‚was‘ passiert ist handlungstechnisch vorgeschoben, sondern ‚wie‘ es passiert.
Ada Harris möchte als einfache, englische Putzfrau ein Kleid von Christian Dior. Zuerst ist es eine merkwürdige Idee, woraus sich allerdings ein Traum bildet. Nur um einmal aus dem Leben auszubrechen, einmal sich die eigenen Leidenschaften erlauben. Der Film wird dabei zu keinem Zeitpunkt melancholisch, und wenn wir einmal mit unserer enttäuschten Heldin traurig werden, ist es nur ein Stoßseufzer. Von Anfang an spürt der Zuschauer, dass dies nicht der Film ist, wo es Niederlagen gibt.
Mrs. Harris verliert beim Hunderennen, ihr wird die Pensionskasse des verblichenen Gatten gestrichen, und selbst als sie einen wertvollen Juwel auf der Straße findet, gibt sie ihn ohne nachzudenken bei der Polizei ab. Mit jedem Verlust, der sie mehr und mehr von Dior in Paris fernzuhalten scheint, dürfen wir gewahr sein, dass sich das Schicksal genau aus diesen Gründen zu Gunsten von Ada Harris entscheidet. Es ist ein Wohlfühlfilm aller erster Güte, dem man sogar die augenscheinlichsten Klischees verzeiht. Weil sie dazu gehören, und wir gefallen daran finden.
„Das Leben ist nicht immer Mondschein und Filme, Mrs. Harris!“
„Warum nicht?“
Anthony Fabian hat das Buch zusammen mit Carroll Cartwright, Keith Thompson und Olivia Hetreed verfasst. Und sie haben genau verstanden worauf es ankommt. Nicht die kritische Satire eines Frank Capra aus den 30ern, sondern das verträumte Ideal eines Stanley Donen Anfang der 50er. Da wird nichts durch technische Tricks künstlich aufgepeppt, es gibt keine altklugen Querverweise auf soziopolitische Aktualitäten, und die notwendige Diversität ist elegant auf ein realistisches Maß eigewoben, so dass es nicht nach anerkennender Aufmerksamkeit schreit.
MRS. HARRIS ist ein Film, wie er ziemlich genau in jener Zeit gedreht worden wäre, in der er spielt. Und das ist erfrischend. Es ist selten, aber auch notwendig. Die Kamera von Felix Wiedemann ist der beste Freund der Geschichte. Kräftige Farben, akzentuierte Lichtsetzung, und eine erzählende Kameraführung. Mit ausgeklügelten Einstellungen hebt Wiedemann wichtige Momente so geschickt hervor, dass diese Bilder nicht nur Ada Harris‘ Gefühlswelt wiederspiegeln, sondern wir es ebenso herausragend empfinden.
Es ist ein Film den jeder genießen kann, weil er ehrlich ist. Auch wenn es paradox klingt, MRS. HARRIS ist besonders, weil er gar nicht besonders sein will. Durchweg unterhaltsam, manchmal naiv, aber immer charmant. Eine Geschichte die gut tut, weil solche Geschichten so rar geworden sind. Einen hohen Anspruch erfüllt der Film dadurch, dass er nicht schlauer sein will als wir Zuschauenden, und wir uns einfach einmal gepflegt unterhalten lassen können. Was mit der umwerfenden Lesley Manville auch unheimlich leicht fällt.
„Das ist es, was du bist. Du bist eine Träumerin.“ – Archie (Jason Isaacs)
Darsteller: Lesley Manville, Isabelle Huppert, Lambert Wilson, Alba Baptista, Lucas Bravo, Ellen Thomas, Jason Isaac u.a.
Regie: Anthony Fabian
Drehbuch: Anthony Fabian, Carroll Cartwright, Keith Thompson, Olivia Hetreed
Kamera: Felix Wiedemann
Bildschnitt: Barney Pilling
Musik: Rael Jones
Produktionsdesign: Luciana Arrighi
Großbritannien, Ungarn, USA, Frankreich, Kanada, Belgien / 2022
115 Minuten