– Bundesstart 05.05.2022
In ihrem kontroversen Essay ‚Trash, Art, And The Movies‘ stellt Pauline Kael den Spielfilm als Kunstform in Frage. Sie widerspricht nicht, ist auch nicht abgeneigt, aber die streitbare Filmkritikerin arbeitet in sechzehn Seiten heraus, wie leicht Kino affine Menschen sich dazu verführen lassen, bestimmte Filme als Kunst zu deklarieren. Auch wenn sich Pauline Kael im Mainstream weit mehr zuhause fühlt, hätte Weerasethakuls MEMORIA mit Sicherheit ihre Aufmerksamkeit erregt, wäre er nicht über 50 Jahre später gemacht worden. MEMORIA ist in Reinform das, was man Allgemein gehalten als Kunst benennt. Allerdings erkennt der Kinogänger die starke Tendenz in der Inszenierung, dass Weerasethakul von eben jener Typisierung Abstand gewinnen will.
Wie MEMORIA in seiner filmischen Qualität einzuschätzen ist, soll hier nicht zur Diskussion stehen, weil dies nur individuell möglich ist. Auf jeden Fall ist er gewagt. Wer bereits Werke des Filmemachers kennenlernen konnte, hat eine ungefähre Vorstellung von dem was ihn erwarten könnte. Wirklich beschreiben lässt sich dieses auf audiovisuelle Ästhetik konzentrierte Werk nicht. Dabei würde nur noch mehr Verwirrung entstehen, die allerdings unverdient wäre, und Interessierte um eine spannende Erfahrung bringen könnte.
Ein dumpfer, leicht nachhallender Knall weckt Jessica. Eine Knall, der sie nicht mehr loslässt, den sie im Verlauf noch einige male hören wird, nur ihre Umwelt scheint diesen Ton nicht wahrzunehmen. Jessica ist in Bogota um ihre Schwester im Krankenhaus zu besuchen. Später will sie mit Toningenieur Hernán in einem Studio den Knall analysieren. Zurück im Krankenhaus, lernt Jessica die Forensikerin Agnes kennen, die an eigenartigen, antiken Skeleten forscht. Und dann ist Hernán verschwunden und niemand scheint ihn gekannt zu haben.
Wie auch in FRIEDHOF DER KÖNIGE wählt Weerasethakul hier eine extrem sparsame Bildsprache. Jede Sequenz besteht aus maximal zwei Einstellungen. Kameramann Sayombhu Mukdeeprom (sehr verspielt bei CALL ME BY YOUR NAME) kadriert diese Bilder wie Gemälde, ohne Bewegung und ohne kürzende, oder erklärende Detailaufnahmen als Zwischenschnitte. Auch die Dialoge sind kaum selbsterklärend. Jede dieser Sequenzen wirkt wie wahllos aus dem Zusammenhang gerissen.
Später lernt Jessica einen Fischer kennen, der ebenfalls Hernán heißt. Könnte er die gealterte Version des verschwundenen Toningenieurs sein? Zwangsläufig versucht man die einzelnen Segmente in eine zusammenhängende Handlung zu bringen. Wie könnten die einzelnen Figuren mit denen Jessica zusammentrifft, im Kontext zueinander stehen. Warum ist die Schwester im Krankenhaus, oder wer ist der Professor am Campus? Dennoch sind es nicht die vermeintlichen Rätsel, die MEMORIA zusammenhalten.
Es ist eine fast mystische Spannung, die sich daraus ergibt wie konsequent Apichatpong Weerasethakul die einzelnen Teile seines Films inszeniert. Daraus eine kohärente Geschichte zu formen, bleibt dem Zuschauer überlassen. Zwingend notwendig ist das aber nicht. Jessica versucht dem Toningenieur Hernán den gesuchten Knall mit dem Begriff „erdig“ zu beschreiben, was sich für Unkundige seltsam ausnimmt. Aber Hernán scheint das zu verstehen, er kann genau mit diesem Begriff Jessica ihrem Ziel näher bringen.
MEMORIA ist genau die Art von Film, die man mit der Extravaganz von Kunstkino verbindet. Er ist allerdings zu keinem Zeitpunkt anstrengend, oder bewusst unverständlich. Von Anfang an entsteht ein Sog, von dem man sich gerne mitreißen lässt, was selbstredend auch mit der unglaublichen Präsenz der unvergleichlichen Tilda Swinton einher geht. Die Essayistin Pauline Kael meinte vor 50 Jahren: „Wir interessieren uns im Allgemeinen für Filme, weil wir sie genießen, und das, wofür wir sie genießen, hat wenig mit dem zu tun, was wir unter Kunst verstehen“. Ich möchte ihr aus tiefstem Herzen widersprechen. Gerade weil er Kunst ist, habe ich MEMORIA so genießen können.
Darsteller: Tilda Swinton, Agnes Brekke, Daniel Giménez Cacho, Jerónimo Barón, Juan Pablo Urrego, Jeanne Balibar u.a.
Regie & Drehbuch: Apichatpong Weerasethakul
Kamera: Sayombhu Mukdeeprom
Bildschnitt: Lee Chatametikool
Musik: César López
Produktionsdesign: Angélica Perea
Columbien – Thailand – Frankreich – Deutschland – Mexiko – China – Schweiz
2021
136 Minuten