GOOD LUCK TO YOU, LEO GRANDE
– Bundesstart 14.07.2022
Es klingt natürlich wie das einstudierte Presse-Mantra, wenn Emma Thompson immer wieder erklärt, Nancy Stokes wäre ihre bisher schwierigste Rolle gewesen. Das ist umso leichter nachvollziehbar, je intensiver man die Filmographie der bereits 63 jährigen geadelten Halbschottin bisher verfolgt hat. Wo der Gentleman normalerweise die Tastatur ruhen ließe, ist das Alter in diesem Zusammenhang elementar. Für die Rolle, wie für das Verständnis für DIE STUNDEN MIT LEO. Die verwitwete Ex-Lehrerin Nancy Stokes möchte wenigstens einmal in ihrem Leben freien, selbstbestimmten Sex haben. Dafür bestellt sie über einen Escort-Service den mindestens dreißig Jahre jüngeren Leo Grande in ein Hotelzimmer. Was als einmalige Sache für ein paar Stunden angedacht war, wiederholt sich vier Mal.
Eines der vielen bewundernswerten Elemente dieses Films, ist der strukturierte Aufbau der Handlung, die eigentlich immer genau das vorführt, was der Zuschauer auch erwarten würde. Man kennt die Art und Form dieser Filme zu genüge, wo sich zwei gegensätzliche Figuren einander annähern, um schließlich sich selbst zu finden. Doch dieser hier ist anders. Es ist die Intensität und Hingabe, mit der dieser Film erzählt wird. Und das geschieht in diesem Fall nicht als produktionstechnischer Stapellauf von Drehbuch, zur Regie, über die Darsteller. LEO GRANDE ist merklich als in sich geschlossenes Gesamtpaket entstanden.
Lachen, schluchzen und zittern liegen hier sehr nahe zusammen, für die Protagonisten wie für den Zuschauenden gleichermaßen. Man könnte es Erlebniskino nennen, weil die bloße Beschreibung einen eher unspektakulären Film skizzieren würde. Die Faszination für LEO GRANDE entsteht durchs sehen und erleben. Wenn Emma Thompson erst total eingeschüchtert, letztendlich schwankend zwischen drängender Euphorie und panikartigem Rückzug die Leinwand mit faszinierender Wirklichkeit erfüllt.
Nancy Stokes ist eine Frau, die weiß was sie will, es aber noch nie in ihrem Leben durchgesetzt hat. Sie hat etwas vom Leben erwartet, was in der Routine des Lebens verloren ging. Wie geht eine in die Jahre gekommene Frau damit um, noch nie einen Orgasmus gehabt zu haben? Und wie erklärt man das einem Fremden? Das ist Stoff, mit dem andere wilde Komödien inszenieren, oder niederschmetternde Melodramen. Daryl McCormack und Emma Thompson beantworten die Frage mit einer sinnlichen Ehrlichkeit.
Ein atemberaubender Leo Grande nimmt Nancy an die Hand. Und mit jedem Wort und jeder Bewegung ist Daryl McCormack dieser Typ von kultivierter Eleganz. Für lange Zeit kann er die Fassade des fokussierten Gigolos aufrechterhalten. Wenn diese Fassade zu bröckeln droht, hat das andere Ursachen als der Fundus von Versatzstücke vermuten lassen würde. Und doch trifft es die Erwartungen sehr genau. Leo und Nancy hängen zusammen und drehen sich umeinander wie eine Doppelhelix.
Zu behaupten, der Film funktioniert nur, weil er von Frauen geschrieben und inszeniert wurde, wäre eine Klischee-Aussage erster Güte, kann aber nicht anders formuliert werden. Viel wichtiger ist jedoch, dass er aber keineswegs ein Frauenfilm ist. Mit Abstand betrachtet, ist LEO GRANDE ein Film über Männer. Doch daran ist das geschliffene Buch von Katy Brand und die feinfühlig punktgenaue Regie von Sophie Hyde überhaupt nicht interessiert. Sie zeigen einen Film, in dem sich jeder findet.
In der Aufarbeitung von Nancy Strokes Sexleben werden keine Schuldfragen erörtert, sondern die Befreiung zelebriert. Was sich den Film entlang im Schatten von intimen Phantastereien aufbaut, ist in Wirklichkeit der Weg zur eigenen Persönlichkeit. Und diesen Weg geht Emma Thompson mit einer verletzlichen Energie, die atemberaubend ist. Selten hat eine Person der darstellenden Zunft eine derartig breite Palette von emotionalen Facetten innerhalb einzelner Szenen gezeigt.
Wenn der hier gezeigte körperliche und darstellerische Einsatz in Thompsons Karriere als bisheriger Höhepunkt betrachtet wird (Kalauer nicht beabsichtigt), ist das kein Marketing-Gerede. Es ist aber auch der fabelhaften Regie von Sophie Hyde zu verdanken, die inszenatorisch ganz klar bei den Figuren bleibt. Hyde hält stark am Timing der einzelnen Handlungselemente fest, und erliegt nicht der Versuchung, welche sich durch die Möglichkeiten ergeben. Sie und Katy Brand möchten, dass sich geschlechterunabhängig jeder darin findet. Und das tut man, fernab vom oberflächlichen Mainstream, und noch weiter weg vom kompliziert verkopften Arthouse.
Darsteller: Emma Thompson, Daryl McCormack und Isabella Laughland
Regie: Sophie Hyde
Drehbuch: Katy Brand
Bildschnitt & Kamera: Bryan Mason
Musik: Stephen Rennicks
Produktionsdesign: Miren Marañon
Großbritannien / 2022
97 Minuten