LEAD ME HOME – NACH HAUSE

nominiert: DOKUMENTATION kurz

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Der Katastrophenfall kann in Amerika nicht nur vom Präsidenten sondern auch vom jeweiligen Gouverneur oder Bürgermeister ausgerufen werden, innerhalb ihrer verantworteten Jurisdiktion. Die gesetzlichen Grundlagen wurden für die Fälle von lokalen Katastrophen wie Reaktorunfälle oder Springfluten, Pandemien oder gewaltsame Unruhen geschaffen. In den Städten Seattle, San Francisco und Los Angeles wurde der Katastrophenfall wegen der steigenden Obdachlosigkeit ausgerufen. Die Filmemacher Pedros Kos und Jon Shenk haben versucht die unhaltbaren Zustände angemessen zu transportieren. Was ihnen außerordentlich gut gelungen ist. Über drei Jahre haben sie betroffene Menschen und deren ausgesuchte Übernachtungsplätze besucht.

Es ist leicht LEAD ME HOME als manipulatives Betroffenheitsstück zu sehen, dass seine Ausrichtung auf das eigene Land fokussiert. Aber der Zuschauer braucht nur wenige Minuten, um die erschreckende Allgemeingültigkeit des Themas zu erfassen. Obdachlosigkeit ist kein Länder spezifisches Problem. Deswegen habe Kos und Shenk in ihrer Erzählstruktur auf jede Art von Analysen, Zahlen oder Statistiken verzichtet. Dennoch bleiben sie neutrale Beobachter.

Das eigentliche Kunststück der Macher entsteht aus ihrem Mut, rationale Bilder zu sehr emotionalen Szenen zu formen. Der Film beginnt mit der Montage eines ganz gewöhnlichen Morgens. Die Routine eines Obdachlosen wie er aus seinem Zelt zwischen zwei Autobahnzubringern heraus kommt, sich an der Leitplanke die Zähne putzt, seine Sachen zusammen packt, und auf dem Rad einem ungewissen Tag entgegen fährt. Unterbrochen ist die Sequenz immer wieder von Bilder, bei denen die Kamera in fremde Wohnungen schaut. Wo Menschen in ihren gut beleuchteten Wohnungen ihrer eigenen Morgenroutine nachgehen, Kaffee trinken, oder sich in einem Badezimmer für den Tag fertig machen.

 

In einer ersten Interview-Reihe erklären die Protagonisten allesamt ihr vorrangiges Ziel, und das ist eine eigene, feste Bleibe zu finden. Immer wieder werden wir diesen Leuten im Laufe dieser drei Jahre begegnen. Zwischenzeitlich findet der Mann vom Anfang eine Wohnung. Später muss er sie schon wieder aufgeben, dafür besitzt er jetzt ein Auto. Die Ursachen für Obdachlosigkeit sind allein bei den gezeigten Betroffenen so vielfältig, dass die allgemeinen Lösungsansätze des Staates für die meisten gar nicht greifen können.

Beeindruckend sind immer wieder die urbanen Hochglanz-Luftaufnahmen, die auf den ersten Blick wie stark stilisierte Postkartenansichten wirken. Erst bei genauerer Betrachtung fallen die von Zelten gesäumten Gehwege auf, die sich über ganze Straßenzüge hinziehen. Zeltstädte umschlossen von Wohnblocks. Manchmal gewinnen die Panoramabilder eine anziehende Ästhetik, weil die Zelte und Waschmaschinenkartons entlang der Wohnviertel eine architektonische Ordnung zu besitzen scheinen. Eine seltsam trügerische Stimmung, die immer wieder mit harten Schnitten aufgebrochen wird.

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Unter großem Polizeiaufgebot werden Zeltlager geräumt, und was an kaum vorhandenen Habseligkeiten nicht in Sicherheit gebracht werden kann, verschwindet in Müllfahrzeugen. Bilder von Großbaustellen die Wohn- und Bürogebäude errichten werden dazwischen geschnitten. Man hört von unüberwindbaren, bürokratischen Hürden. Man sieht Bürgerversammlungen wo sich für eine Vertreibung der Obdachlosen ausgesprochen wird. Das Jon Shenk und Pedros Kos alleine ihre beeindruckenden, teilweise extrem intimen Aufnahmen sprechen lassen und jeden Kommentar vermeiden, macht LEAD ME HOME – NACH HAUSE nur noch emotionaler und mitreißender.

Aber vor allem lässt der Film mitfühlen. Er lässt mitfühlen, weil dem Zuschauer bewusst wird, dass nur ganz wenige Faktoren notwendig sind, um in eine ähnliche Situation zu geraden. Überall in unserer von Wohlstand dominierten westlichen Welt. Als der Film fertiggestellt war, befanden sich besagte Städte bereits das fünfte Jahr im Katastrophenfall. Jede Nacht erleben im ganzen Land eine halbe Millionen Amerikaner Obdachlosigkeit. Was nur exemplarisch verstanden werden soll. Wie die 45.000 Menschen in Deutschland, die auf der Straße leben.

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Darsteller: Luis Rivera Miranda, Tiffany Brownlee, Zia Martinis, Resheemah White, Ravelle Mestaz, Roman Friday, Patricia Wilcox, Flora Lyles, Ronnie Willis, Squiddy Jamzz u.v.a.
Regie: Pedros Kos & Jon Shenk
Kamera: Jon Shenk
Luftaufnahmen: Matt Emmi, Demian Neufeld
Bildschnitt: Pedro Kos & Don Bernier
Musik: Gil Talmi
USA / 2021
39 Minuten

Bildrechte: NETFLIX
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