EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE

EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE– Bundesstart 28.04.2022

Wenn Evelyn Wang erst einmal die Steuerprüfung hinter sich hat, wird ihr augenblicklich chaotisches Leben wieder beherrschbare Normalität erreichen. Denkt sie. Evelyn weiß noch nicht, dass sich ihre Tochter endlich outen will. Sie rechnet nicht damit, dass ihr Mann Waymond bereits Scheidungspapiere parat liegen hat. Und sie hat keine Ahnung, dass sie im Bürokomplex für Steuerfragen die Kontrolle über sich und einige ihrer Inkarnationen aus parallelen Welten übernehmen muss. Da ließt sich alles sehr verrückt, ist es dann auch. Wirkliche Anerkennung fanden die Filmemacher Daniels (Kwan und Scheinert) verdient mit dem nicht zuordenbaren SWISS ARMY MAN, den man irgendwie als Appetitanreger für EVERYTHING sehen kann. Dabei beginnt EVERYWHERE in seiner ausgedehnten Einführung wie ein Film von Wong Kar-wai. Aber wirklich nur Anfangs.

Die Orientierung in ALL AT ONCE zu verlieren, kann sensiblen Kinogängern leicht geschehen. Erklärsätze kommen in einem Tempo, wie die atemberaubenden Schnittfolgen und sich überschlagenden Kameraperspektiven. Wer darüber nachdenkt, hat die nächste Eskalationsstufe schon versäumt. Kwan und Scheinert haben sich nicht mit intellektuellem Anspruch in reifender Gelassenheit aufgehalten, sondern Kino der explodierenden Sinne geschaffen. Und daraus – jetzt wird es wild – intellektuellen Anspruch entwickelt.

Es gibt ein Alpha-Universum, aus dem jede wichtige Entscheidung eines jeden Individuums ein Paralleluniversum entstehen lässt. In einem ist Evelyn eine glamouröse Schauspielerin geworden, in einem anderen hat sie es zur Kung-Fu Meisterin geschafft. Und in einer von vielen weiteren Welten hat Evelyn als Wissenschaftlerin die Welten-Sprung-Technologie entwickelt, die es ermöglicht auf Fähigkeiten und Wissensstand des Äquivalents aus einem parallelen Universum zurück zu greifen.

Trotz der enormen Laufzeit von fast 140 Minuten ist EVERTHING ein enorm kurzweiliger Film. Allerdings setzt dies voraus, dass einer sich auf das aberwitzige Tempo, die schräge Inszenierung und den außergewöhnlichen Mix einlassen kann. Leichte Kost ist der Film in diesen Beziehungen nicht, weil die beiden Daniels rücksichtslos ohne Punkt und Komma das turbulente Treiben hoch halten. Der Geschwindigkeit des Films angemessen, kann es ebenso schnell überfordern dem Geschehen wirklich zu folgen.

Michelle Yeoh bekommt hier eine längst überfällige Hauptrolle, wobei sie mit den verschiedenen Evelyns aus den alternativen Welten auch noch eine gute Bandbreite im Schauspiel offerieren kann. Dem steht allerdings eine merklich spielfreudige Jamie Lee Curtis entgegen. Als verdrießliche Steuerprüferin fast bis zur Unkenntlichkeit in der Aufmachung einer Klischee-Beamtin versteckt, reißt Curtis durchaus immer wieder die Szenen an sich.

Im Kampf zwischen den Paralleluniversen zeigt sich das Gebäude der Finanzbehörde als unscheinbarer, aber fast schon eigenständiger Charakter. Hier zeigt das Produktionsdesign um Jason Kisvarday, wie vielfältig und abwechslungsreich die monotone Tristesse von Großraumbüros in einfallsreichen Händen sein kann. Darin kann Ke Huy Quan endgültig den überflüssigen Sidekick aus GOONIES und INDY ablegen, und beweist sich als präziser und wandlungsfähiger Darsteller mit perfektem Timing. Und nebenher als exzellenter Kampfkünstler.

Everything Everywhere 1 - Copyright LEONINE DISTRIBUTION

 

Welcher Charakter sich gerade welcher Fähigkeit aus welcher Parallelwelt bedient, und in welchem Universum man sich genau zu dieser Zeit befindet, ist extrem schwer nachzuvollziehen. Sicher ist allerdings, dass die Kontinuität stimmt, selbst wenn man sich als Zuschauer des Öfteren verloren glaubt. Dennoch ist das nicht jedermanns Sache. Der Film selbst spricht da für sich. Ungefähr so etwas wie Stephen Chowes SHAOLIN SOCCER, nur mit viel mehr Ebenen.

Alle Fragen nach Logik werden im Keim erstickt. Erklärungen halten nur auf, und würden wissenschaftlich angegegangen, für die Zuschauer auch keinen Sinn ergeben. Für Naturwissenschaftler noch viel weniger. Wie denn auch, in einem rein hypothetischen Szenario. Wichtig für EVERYTHING ist nicht wie es passiert, sondern das es passiert. Und im Kampf um das Multiversum muss es Schlag auf Schlag passieren.

Während Waschsalonbesitzerin Evelyn versucht im Amt ihre Steuerprüfung zu rechtfertigen, entreißt ihr Waymond aus dem Alpha-Universum ihren Geist, um sie für einen Kampf zu akquirieren. Niemand geringeres als Tochter Joy ist dabei das Multiversum zu zerstören. Durch einen Fehler in der Welten-Sprung-Technologie hat Alpha-Joy jeden Geist und jede Fähigkeiten aller ihrer alternativen Joys von sämtlichen Parallelwelten auf sich zusammengeführt. Damit hat sie das Potential alle Universen kollabieren zu lassen.

ALL AT ONCE ist ein wilder Mix aus Screwball, Science Fiction, Fantasy und Martial Arts Spektakel. Wen er inhaltlich nicht überzeugen sollte, den besticht er zumindest in einer künstlerisch technischen Umsetzung die ihresgleichen sucht. Das fokussiert sich hauptsächlich auf die Action- und Kampfszenen. Größtenteils mit Music Videos betraut, weiß Larkin Seiple am Objektiv genau, wie er was und wie ins Bild setzen muss. Was Paul Rogers mit seinem unglaublich präzisen Schnitt in einen packend klaren Fluss bringt.

Die optische Umsetzung ist atemberaubend. Da ist kein Bild zu viel, und auch nie ein Bild zu wenig. Trotz der pausenlos extrem hohen Geschwindigkeit, behält der Zuschauer durchweg der Überblick. Seiple unterstützt das noch, in dem jede der Welten eine eigene visuelle Atmosphäre bekommt. Die sich potenzierende Gemeinschaftsarbeit von Seiple und Rogers ist tatsächliche Filmkunst. Schließlich ist EVERYTHING kein gefälliges drei Minuten Music Video, sondern sie formen den Fluss von Daniels dramaturgischen Akzenten.

Die Möglichkeit einer überforderten Aufnahmefähigkeit des Zuschauers bleibt gegeben. Hardcore Film-Junkies hingegen haben allerdings auch schon wildere Sachen erfahren. Wie sich EVERYWHERE in der zweiten Hälfte entwickelt, zeigt er die Daniels aber als Filmemacher, die nicht einfach nur wilden Partyspaß inszenieren möchten. Joys wahre Motivation für die Zerstörung, und Evelyns ungewöhnliche Methode des Kampfes betten ALL AT ONCE innerhalb des Martial-Arts-Spektakels ins Arthouse-Kino.

Everything Everywhere 2 - Copyright LEONINE DISTRIBUTION

 

Darsteller: Michelle Yeoh, Ke Huy Quan, Stephanie Hsu, James Hong, Jamie Lee Curtis u.a.
Regie & Drehbuch: Daniels (Daniel Kwan, Daniel Scheinert)
Kamera: Larkin Seiple
Bildschnitt: Paul Rogers
Musik: Son Lux
Produktionsdesign: Jason Kisvarday
USA / 2022
139 Minuten

Bildrechte: LEONINE DISTRIBUTION
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