– Bundesstart 09.12.2021
– bei NETFLIX seit 24.12.2021
Das Jahr endet mit einem Feuerwerk, in vielerlei Hinsicht. Und tatsächlich auch einmal im positiven Sinne, nämlich mit dem Weltuntergang. Das Kinojahr war erst kein Gutes, hat sich aber im letzten Drittel als ein extrem lukratives Geschäft zurück gemeldet. Das Streaming-Dienste die Weltherrschaft übernehmen werden, steht also noch immer aus. Der Geheimagent hat bewiesen, dass warten belohnt wird, oder wüste Planeten einfach nur Zeit brauchen. Die Gangs aus der West Side haben etwas an Schlagkraft verloren, was einer vernünftigen Vorsicht geschuldet ist, die Kinogänger verständlicherweise Zurückhaltung üben ließ. Da hätte sich Adam McKays neuester Film noch wesentlich schwerer getan, der zwar mit zwei Wochen Vorlauf eine Kinoauswertung erfuhr, die aber erwartungsgemäß mit wenig Erfolg gesegnet war. Eine von und für Netflix großmundig angekündigte Produktion lässt Zuschauer die Prioritäten eben auf die Haus eigene Verwertungsstelle setzen. Was speziell bei DON’T LOOK UP Fluch und Segen zugleich ist.
Die graduierte Astronomie-Studentin Kate Dibiasky entdeckt einen neuen Kometen. Mit ihrem Professor Dr. Randall Mindy und einigen Kommilitonen ist Kurs und Flugbahn schnell berechnet. Der Brocken mit 10 Kilometern Durchmesser wird in genau sechs Monaten die Erde treffen und alles Leben auf dem Planeten vernichten. Da denkt sich der geneigte Zuschauer sofort, dass ihm das alles sehr bekannt vorkommt. Auch wenn das Gefühl nicht trügt, ist alles doch ganz anders, denn DON’T LOOK UP ist mit jeder Faser seiner DNS ein Kind seiner Zeit. Und unsere Zeit ist nun einmal verrückt, wo eine bevorstehende Apokalypse hinten anstehen muss.
Um in den Rhythmus des Films zu finden, braucht man kurze Zeit, weil er seinen zügellosen Charakter nicht sofort erkennen lässt. Dazu gehört ein sehr missglückter Titelvorspann, bei dem das Grafikdesign zu aufdringlich schon einmal Chaos vermitteln will. Die vertragliche Nennungspflicht der Personen wird mit ineinander verschachtelten Buchstaben und Namen ad absurdum geführt. Eigentlich trifft es den Ton der Widersprüchlichkeit im Film, zerreißt aber in diesem Augenblick die Atmosphäre des noch unterschwelligen Humors.
Doch richtig in Fahrt gekommen, kann man sich kaum der Bewunderung entziehen, wie virtuos Autor und Regisseur Adam McKay seine Geschichte beherrscht, und den stetig anschwellenden Wahnsinn atmosphärisch zusammenhält. Das gelingt McKay damit, dass er dramaturgische Versatzstücke immer wieder aufgreift, diese aber ganz geschickt in eine unerwartete Richtung lenkt. Die Bilder von Linus Sandgren sind dabei sehr strukturiert immer auf die Situation fokussiert, ohne in alberne Kameraspielereien zu verfallen, wie man sie als verstärkendes Stilmittel bei überzeichneten Komödien gerne nutzt.
Mit Sandgrens detailierter Unterstützung erzählt McKay seinen satirischen Irrsinn noch viel eleganter und expliziter, wenn zum Beispiel die Hauptprotagonisten Stunden um Stunden im Wartebereich vor dem Oval Office verbringen. Denn die Entdeckung von Dibiasky und Mindy führt die beiden natürlich zuerst ins Weiße Haus. Doch die Präsidentin und ihr Stab sind viel mehr an der Aufarbeitung eines Skandals interessiert, der in den kommenden Tage viel innenpolitischen Schaden anrichten könnte. Da sind die sechs Monate bis zum Weltuntergang noch eine Menge Zeit.
Verzweifelte Versuche sich über öffentliche Medien an die Weltbevölkerung zu wenden schlagen ebenso fehl, weil man sich die gute Laune im Frühstücksfernsehen nicht nehmen lassen kann. Und weil Adam McKay seinen politischen und sozialen Rundumschlag auf aktuelle Ereignisse vervollkommnen will, werden Dibiasky und Mindy immer wieder mit bizarren Methoden vom FBI wegen Störung der nationalen Sicherheit festgenommen. Nur damit man sie sofort wieder laufen lässt, weil keiner etwas mit den Whistleblowern anzufangen weiß.
Der Regisseur verlässt sich hierbei ganz auf seine fabelhaften Darsteller. Nach MONEYBALL und WOLF OF WALL STREET, erspielt sich Jonah Hill erneut eine Anwärterschaft im ausstehenden Preisvergabe-Zirkus. Sein Präsidentenberater Jason Orlean poltert sich mit soviel Absurdität durch die leider viel zu wenigen Szenen, dass ihn sein speichelleckendes Fähnchen im Wind zu einem gleichsam unberechenbar gefährlichen Menschen macht. Die einst kometenhaft aufgestiegene Lichtgestalt der Schauspielzukunft Jennifer Lawrence wird hingegen trotz ihres zentralen Charakters aus unerfindlichen Gründen merklich kurz gehalten.
Wohingegen Kostümdesign und Makeup grandios daran scheitern, der eigentlichen Absicht gemäß, den verunsicherten Astro-Physiker Randall Mindy wirklich unattraktiv zu machen. Leonardo DiCaprio ist einfach zu schön für diese Welt. Nichtsdestotrotz ist es ein Glück, dass er sich dem unsäglichen Wahnsinn widersetzt, mit verzerrendem Makeup auffallend künstlich zu verändern. Die Charaktere funktionieren ohnehin kaum über ihr Aussehen, wobei Cate Blanchett als Fernsehmoderatorin dabei eine Ausnahme von erschreckendem Realismus macht. Die Darsteller überzeugen allesamt mit ihrem hervorragend gesetzten und hintersinnigen Spiel. Wo Rob Morgan als Wissenschaftsberater besondere Aufmerksamkeit verdient hat, der sich nicht einfach nur souverän sondern herausragend locker im Feld der sonst überragenden A-Listen-Namen behauptet.
Aus einem aufgeheizten politischen Klima heraus, wirkt es fast schon selbstverständlich, dass sich die zynisch böswilligen Spitzen gegen klar definierte Parteien richtet. Und das sehr einseitig. Was allerdings in Ordnung ist, weil die gesellschaftspolitischen Parallelen in DON’T LOOK UP sehr genau getroffen sind, aber die Geschichte selbst sehr eigenständig funktioniert. Denn die Reaktionen auf die erfundene Ausgangsituation im Film, wirken mit der exakt selben Dynamik wie im wirklichen Leben auf reale Ereignisse.
Wie gut die Satire funktioniert, und wie treffsicher sie aktuelle Bezüge beschreibt, bemerkt man am zweischneidigen Schwert, zu dem DON’T LOOK UP im Verlauf wird. So brüllend komisch viele Szenen inszeniert sind, ausgespielt werden, mit grandiosen Pointen versehen sind, genauso oft macht einen dieser Film auch wütend. Er macht aus einer gewissen Ohnmacht heraus so wütend, wie es in den vergangenen Monaten unendliche viele Nachrichtenbeiträge gemacht haben. Die Zeit wird endgültig entscheiden, aber jetzt schon zu sagen, dass Adam McKays jüngster Film ein treffsicheres Portrait unsere Zeit geworden ist, wäre auch nicht zu hoch gegriffen.
DON’T LOOK UP auf eine Ebene mit DR. SELTSAM zu heben wäre nur bedingt gerechtfertigt, weil DR. SELTSAM seine Satire aus absurd unwahrscheinlichen Übertreibungen zieht. Aber DON’T LOOK UP gewinnt sein trefflich satirisches Potential aus den genauen Reflexionen von real existierenden Geschehnissen. Das ist natürlich sehr bitter. Dadurch wird er als Film in der Zeit der wichtigsten gesellschaftlichen Feiertage nicht unbedingt zur ersten Wahl. Jedenfalls nicht im Kino, wo er tatsächlich hingehört. Wohingegen er auf Netflix zum schnell verschossenes Kanonenfutter für die Streaming-Statistik wird. Ist dass nicht auch irgendwie selbstreflektierende Satire?
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Jennifer Lawrence, Rob Morgan, Jonah Hill, Meryl Streep, Mark Rylance, Cate Blanchett, Tyler Perry, Timothée Chalamet, Ariana Grande, Ron Perlman, Melanie Lynsky, Himesh Patel u.a.
Regie & Drehbuch: Adam McKay
Kamera: Linus Sandgren
Bildschnitt: Hank Corwin
Musik: Nicholas Britell
Produktionsdesign: Clayton Hartley
USA / 2021
138 Minuten