DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS
– Bundesstart 05.05.2022
Haben sie gewusst, dass unsere Realität im Hauptuniversum Erde-616 stattfindet, und nicht auf Erde-199999, wie es das Marvel Cinematic Universe vorgesehen hat? Das Eine war wie das Andere nerdige Nebensache – vorerst. Stets war Marvel daran gelegen, in Person als Kevin Feige bekannt, die einzelnen Filme als selbsterklärende Popcorn-Unterhaltung zu produzieren. Popcorn mit Niveau. Gleichzeitig sollten die unüberschaubaren Heerscharen an Comic-Lesern und -Verehrern bedient werden. Jeder Film war ein Panoptikum an Querverweisen und Insiderwissen, mit rückblickenden Erklärungen und vielversprechenden Vorhersagen. Und immer blieb es im Einklang zu den gezeichneten Vorlagen.
Dennoch wird der sporadische Kinogänger mit größtmöglichen Unterhaltungswert bedient, ohne Gefühl etwas verpasst zu haben. Ein harmonische Koexistenz von zufriedenen Zuschauern wie sie sonst nur in kitschigen Filmen zu finden ist. Erstaunlich wie das über 27 Kinofilme gut gehen konnte. Die 5 bereits veröffentlichten Disney Miniserien müssten da eigentlich ausgenommen werden, und genau da beginnt DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS zu straucheln.
Der erste Horrorfilm des MCU kratzt eher am Genre, als das er es bedient. Unter dieser Voraussetzung hätte man von Regisseur Sam Raimi etwas mehr erwartet, aber seine vorsichtige Annäherung verschreckt wenigstens nicht unbedarfte Zuschauer. Soll nicht heißen, dass Raimi auf seine bevorzugten Versatzstücke verzichten würde. Es gibt jede Menge Jumpscares und erschreckende Totenköpfe. Am markantesten sind allerdings die Zitate von THE RING, de Palmas CARRIE, und allen Filmen die mit schmiedeeisernen Zäunen schreckliches tun.
Der Regisseur hat seine besten Filme außerhalb des ihm aufgezwungenen Labels einer Horror-Legende gemacht. DARKMAN, THE GIFT und die bessere, der bisherigen Spider-Man-Reihen. Deswegen verwundert, warum MULTIVERSE MADNESS so auseinanderfällt und keine fließende Kohärenz bekommt. Jede Dialogsequenz unterbrich harsch die Reihe von ausgezeichnet choreografierten und hervorragend visualisierten Action-Szenen, so als sollten sie gar nicht eingebunden sein.
Marvel-Filme sind keine Dramen die durch tiefe Figurenzeichnungen bestehen. Es hat sich stets daraus ergeben, was die jeweiligen Figuren zu tun hatten, was ihre Motivation sein sollte. Das liegt natürlich immer an den geschickt gewählten Darstellern, die bewusst nach Typus besetzt wurden. Nicht umsonst durchlief Hulk zwei Schauspielerwechsel, von Robert Downey Jr. als Stark braucht man da erst gar nicht reden. Auch Cumberbatch wurde auf Nummer sicher besetzt, um Strange den passenden Typus anzuheften.
Das ist die geheime Zutat im Erfolgsrezept, weil die Übereinstimmung des vorgegebenen Charakters mit dem Wesen des Darstellers ein wesentlich facettenreicheres Spiel zulässt. Benedict Cumberbatch muss keine Energie verschwenden, den Meister der Zauberkunst glaubhaft zu machen, aber er kann mit diesem Rollenbild wunderbar spielen, viel tiefgründiger werden, und ihm durch Nuancen schärfere Kanten verleihen. Genau das beherrscht Cumberbatch ohne nachdenken zu müssen. Nur gibt ihm MULTIVERSE kaum Gelegenheit dazu.
Xochitl Gomez zeigt als Weltenspringerin America Chavez eine ansprechende Natürlichkeit, die gut mit der leichten Überheblichkeit von Cumberbatchs Strange harmoniert. Nahtlos passt sich da Benedict Wong als oberster Zauberer Wong mit seiner stoischen Ruhe an. Dennoch gibt man ihnen kaum Sätze die mehr sind als nur Erklärungen. Selbst die schreiend komische Episode um Spider-Mans Netze dient nur zur Erörterung des Multiversums für den Zuschauer.
Das MULTIVERSE OF MADNESS ist kein spannendes Rätselvergnügen. Wo sind die Momente, wo der Zuschauer selbst Rückschlüsse ziehen und Konsequenzen erahnen darf? Das Gefühl des eingebunden seins ist nicht gegeben. Unablässig werden Situationen beschrieben und die Folgen besprochen, weil der Film kaum selbsterklärende Sequenzen aufweist. Und muss Strange seine Vergangenheit der verflossenen Christine aufarbeiten, wirkt das wie halbherzige Pflichterfüllung, in der die Sentimentalität nicht aufrichtig erscheint.
Die Komplexität vieler parallel existierender Welten mit sich gleichenden Bewohnern und ähnlichen Strukturen ist zweifellos schwierig zu vermitteln. Aber Sam Raimi macht auch nicht den Versuch den Handlungsverlauf in einen harmonisch wellenförmigen Fluss zu bringen. Raimi inszeniert digital, es gibt nur die Null und die Eins. Dabei passiert es leicht, dass die Action schnell zum audiovisuellen Übermaß führt, während reine Charakterszenen leichte Ungeduld fördern.
Ein geschätzter Kollege verweist immer wieder darauf, wie es ihn verblüfft, dass Marvel von Film zu Film stets neue Ansätze und Aspekte findet. Bisher immer konform gehend, kehrt sich das Neue bei MULTIVERSE allerdings ins Negative. Gewohnt grandios in seiner technischen Umsetzung, fehlt ihm die gewohnte Eigenständigkeit. In zu vielen Teilen lässt er sich nicht losgelöst genießen, fordert Vorkenntnis, versucht sich aufdringlich bemüht als Kernstück neuer Ausrichtungen.
Die Ereignisse in SPIDER-MAN: NO WAY HOME ergeben dabei wider Erwarten die geringsten Schwierigkeiten für ein unvoreingenommenes Publikum. Das mit WANDAVISION erstmalig, und wahrscheinlich nicht zum letzten mal, eine Disney+-Serie förmlich aufgezwungen wird, ist nicht gut. Und die permanente Erwähnung von Thanos verwirrt. Es ist schlecht für das, was diese so ausufernde Reihe bisher auszeichnete. Die Souveränität der einzelnen Teile, und die Kunst ihrer makellosen Integration.
Die Frage ist, ob es zu vermeiden gewesen wäre, oder aber zwangsläufig so kommen musste. Ist es am Ende dem massiven Content geschuldet den Marvel aufgebaut hat, und noch weiterführen will? Womit hier nur die filmischen Ergüsse gemeint sind. Der sichere Hafen ist scheinbar verlassen. Was auch der extreme Fan- und Nerdservice zeigt, den die Macher hier eingebaut haben. Raimi als Regisseur kann laut Gesetzen der Studiohierarchien dafür nicht alleine verantwortlich sein.
Die Illuminati von Erde-838 und das daraus bestehende Team, das sind nicht einfach nur Fan orientierte Einschübe. Mit den die Illuminati verkörpernden Darstellern ist das ein Hochglanzprospekt an Anbiederung. Und Danny Elfmans Musikreferenz an die Titelmelodie der Zeichentrickserie X-MEN ’97 ist klarer Vorbote. Es wäre unnötig und ärgerlich, würde sich nach all den Jahren Marvel, und in erster Linie ist damit Kevin Feige gemeint, in seiner Ausrichtung verlaufen.
Es gibt eine Szene, in der Doctor Strange mit seinem neuen Schützling (oder wer hier eben wen beschützt), durch eine Vielzahl von Parallelwelten des Multiversums geschleudert wird. Mal ändert sich nur die Kulisse, dann ist eine Welt nur schwarzweiß, es gibt ein Zeichentrick-Universum, eines unter Wasser, die Welt der Dinosaurier. Im kurzen Anriss, ist die Fantasie der Macher unbegrenzt. Am Ende ist Erde-838 lediglich ein Abbild eines überwucherten Manhattens mit viel Grün auf Straßen und Häuserfassaden.
Die Möglichkeit von neuen Aspekten und künstlerischer Kühnheit wird gezeigt, es wird aber nicht gewagt. Mit seinen fulminanten Action-Settings zeigt sich Raimi als Regisseur mit einem ausgeprägten Hang fürs Detail und präziser Bildführung. Er lässt den Zuschauer auch das sehen, was die Figuren wahrnehmen, was gleichgearteten Spektakeln sehr selten gelingt. Das ist manchmal schwindelerregend im wortwörtlichen Sinne, und manchmal auch überwältigend. Letztendlich werden aber gegebenen Chancen vertan.
Es soll nicht behauptet werden DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS wäre ein missratener Film. Er schrammt nur an den Attributen vorbei, welche die anderen Filme im Marvel Cinematic Universe so gut machen. Sollte dieser Film maßgeblich für die Ausrichtung von Phase Vier sein, kann es schwierig werden. Für jemanden der einen allgemeinen Hang zu Filmen hat, wird es vielleicht sogar uninteressant.
Es hat aber auch es noch nie eine Reihe gegeben, die trotz dieser Größenordnung eine sich steigernde Umorientierung gerade wegen ihrer Anhängerschaft besser verkraftet hätte. Die dürften dann aber auch den Überblick behalten, auf welcher Erde wir uns gerade befinden. Die Comic-Vorlagen bieten an Anzahl von Figuren unendliche Möglichkeiten, und mit dem Multiverse in unendlichen Kombinationen.
Darsteller: Elizabeth Olsen, Bendict Cumberbatch, Benedict Wong, Xochitl Gomez, Chiwetel Ejiofor, Michael Stuhlbarg u.a.
Regie: Sam Raimi
Drehbuch: Michael Waldron
Kamera: John Mathieson
Bildschnitt: Bob Murawski, Tia Nolan
Musik: Danny Elfman
Produktionsdesign: Md Joni Hossain, Charles Wood
USA / 2022
126 Minuten