– 08.09.2022 bei DISNEY+
Warum gibt es so viele Adaptionen von Carlo Collodis ‚Pinocchio‘? Es mag an den Interpretationsmöglichkeiten des Stoffes liegen. Bei Disney hingegen ist es eine Neuausrichtung für die Klassiksparte. Natürlich ist der finanzielle Aspekt primär. Aber KÖNIG DER LÖWEN und DAS DSCHUNGELBUCH haben in diesem Live-Action-Sektor bewiesen, dass sich dies mit Sensibilität und Verständnis gegenüber dem Original auch rechtfertigen lässt. Der pädagogische Wert war für Walt Disney 1940 sicher ausschlaggebend, aber im Gegensatz zur Romanvorlage war die Holzpuppe in jener Verfilmung nur ein Wesen mit besten Absichten. Aber genau die Zwiespältigkeit in der Figur, wie sie von Collodi anfänglich beschrieben wird, hätte der Geschichte in der heutigen Zeit sehr gut getan. Aber Robert Zemeckis und sein Co-Autor Chris Weitz wollen nicht an der Legende des zweiten ‚animierten Klassikers‘ der Walt Disney Productions kratzen.
Jede Neuauflage eines bekannten Stoffes beinhaltet den Versuch, die Geschichte so zu erzählen, wie es noch nie jemand sonst getan hat. Ecken und Kanten abschleifen, oder finden und darauf aufzubauen, irgendwie den Inhalt zu verstehen. Da wird es für Zemeckis Umsetzung richtig schwierig, denn zeitgemäß ist seine Adaption überhaupt nicht. Diese kratzt ganz bestimmt nicht am Original, verbaut sich aber vollkommen die Möglichkeit für den gewissen eigenen Charme.
Es gibt die unvermeidlichen popkulturellen Anspielungen, die sind aber lediglich für Eingeweihte. Originell, aber irrelevant für die substanzielle Bedeutung. Beim Künstlernamen leidet der Fuchs kurz einmal von Pinocchios Pinienholz zu Chris Pine über. Aber wer würde sich so einen Namen schon merken? Besser sind Geppettos unzählige Kuckucksuhren. Zur vollen Stunde bringt zum Beispiel die Hexe den Apfel zu Schneewittchen, oder Dumbo kommt aus dem Vogelloch. Fast jeden Disney-Klassiker gibt es in Form einer Uhr zu entdecken.
Der ärmliche Tischler Geppetto bastelt sich eine Holzmarionette nach dem Ebenbild seinen verlorenen Sohnes. Sein Wunsch in den Nachthimmel wird erhört (‚When You Wish Upon A Star‘), und die Blaue Fee erweckt die Puppe zum Leben. Aber ein richtiger Junge kann er nur werden, setzt die Fee voraus, wenn er lernt mutig zu sein, selbstlos und wahrhaftig. Pinocchio nimmt sich das zum Holzherzen, hat aber keine Ahnung von den Tücken der Wirklichkeit. Mit der Grille Jiminy an der Seite, stolpert er von einem Abenteuer ins nächste.
Das sind aber auch die Tücken des Films, denn zu keinem Zeitpunkt wird Pinocchio Gutes zuteil. Seine Abenteuer bestehen eigentlich darin, dass er bestohlen, belogen und ausgenutzt wird. Pinocchio macht nach seinem Verständnis überhaupt nichts falsch, wird aber genau dafür abgestraft. Er zeigt sich mutig, selbstlos und wahrhaftig, kann aber nicht zwischen Richtig und Falsch unterscheiden. Das mag vor 82 Jahren als pädagogisch wertvoll angesehen worden sein. Auf Höhe der Zeit ist es schon lange nicht mehr.
Trotz 20 Minuten längerer Laufzeit als das Original, findet Zemeckis nicht die angemessenen Momente, das Geschehen oder die Figuren wirken zu lassen. In den meisten Passagen wird es immer sehr laut und hektisch, was mit der Zeit fordert. Besonders in den Sequenzen mit Fuchs und Katze gibt der Regisseur ein Tempo vor, dass an nervenaufreibende Slapstick-Komödien erinnert. Da beginnt dann selbst der zweite große Song (‚Hi Diddle Dee Dee‘) in der überenthusiastischen Umsetzung seinen Hit-Bonus zu verlieren.
Disney wird sich noch lange gefallen lassen müssen, dass im Rahmen der Live-Action Neuverfilmungen immer wieder KÖNIG DER LÖWEN als Beispiel bemüht werden wird. Denn PINOCCHIO fehlt das Grundsätzliche, nämlich das Live in der Action. Der KÖNIG DER LÖWEN hat singende Tiere, an deren reale Erscheinung niemand zweifelt. In dieser Beziehung konnte nur Robert Zemeckis eine logische Entscheidung sein, dem alten Film ein neues Leben einzuhauchen. PINOCCHIO lässt selbst in realen Kulissen die visuelle Anmutung für photorealistische Bilder vermissen.
Zemeckis ist schon immer die Blaue Fee für magische Momente im Kinos gewesen, jemand der Tricktechnik zum Äußersten getrieben hat. Aber wenn Tom Hanks die imaginäre Katze Figaro streichelt, dann glaubt man ihm eine Katze zu streicheln. Wenn allerdings Figaro auf das Streicheln reagiert, dann ist das ganz offensichtlich eine Computeranimation die sich da bewegt. Selbst die Kulissen machen einen künstlich erzeugten Eindruck. Und manche Effekte, wie die Wasserbewegungen oder die Möwe Sophia, erreichen nicht einmal Standard. Der Besonderheit von sogenannter Live-Action kommt dieser Film nicht nach.
Dazu bringt der Film die Zuschauenden um die eindringlichen Momente des Staunens. Sei es Pleasure Island als Ort, oder das Seeungeheuer als Figur, es verliert seine Wirkung in der inszenatorischen Überfrachtung. Wir bekommen erst gar keine Gelegenheit eine Beziehung aufzubauen, weder zu den Figuren, noch zu den Orten. PINOCCHIO 1940 hatte noch eine soziologisch relevante Bedeutung in seinen Themen und moralischen Wertvorstellungen. Die Kritiker Keith Booker und Nicolas Sammond sprechen vordergründig von Kindererziehung und konservativen Prinzipien.
Genau diese Verknüpfung von Spektakel und hintersinnigen Aussagen sind nicht mehr gegeben, weil sich Zemeckis und Chris Weitz zu sehr auf das Original berufen. Eine zeitgemäße Interpretation bleibt somit aus, und damit auch eine ergänzende Begründung, warum es so viele Adaptionen dieses Stoffes gibt. Auch an den fantastischen visuellen Möglichkeiten kann es nicht liegen, denn gerade in Robert Zemeckis Kernkompetenz findet PINOCCHIO kaum Rechtfertigung, der Mann der FORREST GUMP und VERSCHOLLEN gemacht hat. Mit Tom Hanks.
Darsteller: Tom Hanks, Cynthia Erivo, Angus Wright, Sheila Atim, Jamie Demetriou, Giuseppe Battiston u.a.
mit den Stimmen von: Joseph Gordon-Levitt, Benjamin Evan Ainsworth, Lorraine Bracco und Keegan-Michael Key
Regie: Robert Zemeckis
Drehbuch: Robert Zemeckis, Chris Weitz, Simon Farnaby
Kamera: Don Burgess
Bildschnitt: Mick Audsley, Jesse Goldsmith
Musik: Alan Silvestri
Produktionsdesign: Doug Chiang, Stefan Dechant
USA / 2022
105 Minuten