VERDENS VERSTE MENNESKE
– Bundesstart 02.06.2022
Dies ist eine Geschichte in zwölf Kapiteln, sowie Pro- und Epilog. Es ist die Geschichte von Julie, die kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag steht. Wie jeder Nuller-Geburtstag, eine heikle Zeit. Julie weiß immer genau was sie will. Sie möchte unbedingt Chirurgin werden. Was sie anspornt ist ihr innerer Drang, in allem die Beste zu sein. Bis sie ganz sicher weiß, dass sie unbedingt Psychologin werden will. Zur Zeit arbeitet Julie in einer Buchhandlung, solange sie von der Fotographie allein noch nicht leben kann. Denn das ist es, was sie wirklich will und ganz sicher werden möchte, Fotografin. Kaum eine Kinokultur kann so einen menschlichen Werdegang ehrlicher und genauer beschreiben wie die Skandinavier. Joachim Trier ist einer von ihnen, ist nicht mit Lars verwandt, macht dafür aber viel zugänglichere Filme mit wesentlich glaubhafteren Figuren. So wie Julie, in der sich mit Sicherheit die meisten Zuschauer wiedererkennen – ob weiblich oder männlich.
DER SCHLIMMSTE MENSCH war nicht umsonst Festivalliebling und Nominierungsfavorit 2021. Trier hat sich, wie schon zuvor, erneut mit Eskil Vogt für das Drehbuch zusammengesetzt. Vogt hat mit seiner zweiten Langfilmregie THE INNOCENTS in diesem Jahr schon selbst für schaurig schönes Unbehagen gesorgt. Trier hat jetzt hier keinen Horrorfilm inszeniert, aber was die beiden Langzeitkollaborateure verbindet, ist der analytische Blick auf Fähigkeit und Unvermögen des menschlichen Wesens.
Julie ist eine Frau die sich noch gar nicht gefunden hat. Im Verlauf verliebt sie sich in Aksel, der ist über Vierzig und schon lange darüber hinaus, noch etwas finden zu müssen. Aber er würde Julie gerne Halt geben, sie führen, sie für seinen eigenen Lebensplan gewinnen, wenn sie schon keinen eigenen hat. Zwangsläufig ergibt sich Streit, doch nicht nur bei Aksel eckt sie mit ihrer noch unsteten Art an. Julies Mutter zeigt es nicht, ist dennoch von ihrem planlosen Hin und Her leicht genervt. Bei jedem in ihrem Umfeld erregt sie Unverständnis.
Die erfrischend natürliche Renate Reinsve verkörpert Julie. Mit ihrer perfekten Mischung von naiver Unschuld und selbstsicherer Beharrlichkeit wird Reinsve zu einem perfekten Spiegelbild für den größten Teil eines geneigten Publikums. Die sonst merklichen Grenzen zwischen freiem Spiel und Inszenierung heben sich immer wieder auf. Aber zu keinem Zeitpunkt hat man das Gefühl von Improvisation, was oft Längen und Inkohärenz mit sich bringt. Der spürbare Freiraum im Spiel und das perfekte Timing für Dramaturgie bilden eine mitreißende Symbiose.
DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT ist leichte Komödie, bewegendes Drama und Romanze zu gleichen Teilen. Ein Attribut um Filme aus skandinavischen Ländern zu beschreiben, ist deren Fähigkeit Komödien traurig und Melodramen witzig zu erzählen. Es beißt sich nicht, und hebt diese Werke von den amerikanisch beeinflussten Mainstream-Produkten ab. Dies soll allerdings nicht als qualitative Wertung missverstanden sein, eher als praktikable Einordnung.
Julie ist keine Person, die sich anbiedert oder verbiegt. Ihre Entschlossenheit gegenüber Aksel, weckt falsche Hoffnungen. Bei Freunden stößt sie auf Unverständnis wegen des fehlenden Kinderwunsches. Eine Nacht mit dem unkonventionellen Eivind zählt nicht als Affäre. Für ihr Umfeld nimmt sich Julie aus, wie der schlimmste Mensch der Welt. Doch wie es langsam durchschimmert, ist es nicht sie, die unmöglich ist. Familie, Freunde und ihre Beziehung finden es schrecklich, dass sich die offene und ungezwungene Julie einfach nicht an die Konventionen hält oder Klischees erfüllt.
So gibt es eine hoch dramatische Trennung, die für den Zuschauer eigentlich sehr schmerzlich sein müsste. Aber eine Erzählerin aus dem Off erklärt was Julie sagt, genau mit den Worten die Julie im selben Augenblick ebenfalls hörbar im Dialog von sich gibt. Das nimmt unheimlich viel von der Anspannung, wird aber dennoch der Ernsthaftigkeit der Szene gerecht. Der Film gewinnt dabei etwas, dass strikt kalkulierten und angepassten Filmen oft verloren geht. Wir als Beobachter bleiben bei den Figuren, weil keine emotionale Distanz angeboten wird.
DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT ist herrlich schräges Erzählkino. Es nimmt sich so ungewöhnlich aus, weil Joachim Trier, mit Eskil Vogt, seine Figuren und besonders die Geschichte ernst nimmt. Die Macher wollen keinem etwas vormachen, es gibt den Fremdschämfaktor, genauso wie den herzlichen Lacher, den kleinen Tränenfluss, und die ungewöhnlich verblüffenden Momente. Joachim Trier ist ehrlich zu seinen Charakteren, und er bleibt ehrlich gegenüber seinem Publikum. Bewegende Augenblicke die Freude bereiten und treffender Humor der manchmal schmerzt. Eigentlich so wie man es erwartet, und doch sehr überraschend.
Darsteller: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Hans Olav Brenner, Maria Grazia Di Meo, Helene Bjorneby u.a.
Regie: Joachim Trier
Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt
Kamera: Kasper Tuxen
Bildschnitt: Olivier Bugge Coutté
Musik: Ola Fløttum
Produktionsdesign: Roger Rosenberg
Norwegen, Schweden, Dänemark, Frankreich / 2021
128 Minuten