THE LAST BUS
– Bundesstart 11.08.2022
Mehr 70 Jahre ist es her, dass Mary und Tom von der äußersten Spitze im Süden Englands zur nördlichsten Stadt Schottlands geflohen sind. Von Land’s End bis nach John O’Groats sind es 888 Meilen, also über 1400 Kilometer. Weiter kann man sich auf dem britischen Festland nicht entfernen. Wovor beide davon gelaufen sind, werden wir erst gegen Ende des Films erfahren. Aber Gillies MacKinnon will es auch nicht als überraschende Wendung inszenieren. Wir als Zuschauende können es erahnen, wenn wir in Rückblenden auf die Ausschnitte in Mary und Toms Leben werfen. Es gibt uns Verständnis dafür, dass sich Tom, für seine Begriffe gut organisiert, mit über Neunzig in den Bus setzt und von John O’Groats ein letztes Mal zurück nach Land’s End fahren möchte. Es ist einer der Road-Movies wie sie im Buch der Filmgeschichte definiert sind. Die eigentliche Geschichte geschieht auf der Straße.
In Schottland können Senioren die öffentlichen Verkehrsmittel umsonst nutzen, welche Tom schon allein wegen seines hohen Alters nutzen muss. Überraschend ist nicht das so viele Dinge auf seiner Reise passieren, sondern was alles passiert. Oftmals entwickelt es sich auch gegen jede Erwartung. Tom fungiert als Seelentröster, Konfliktlöser, oder Hilfsmechaniker. Aber Tom ist nicht der Altersweise, der für alles schlaue Sprüche parat hält. Und das hebt THE LAST BUS von ähnlich gelagerten Film ab.
Wenn er gegen massiven Widerstand schließlich doch einen Bus wieder zum Laufen bringt, dann nicht weil er Retter in der Not für die anderen Passagiere sein will, sondern er schlicht und ergreifend seine Reise fortsetzen möchte. Ein lebensverändernder Rat für einen Jugendlichen kommt nicht als vernünftige Entscheidungshilfe, sondern weil sich Tom plappernd in seinen Gedanken verliert. Wenn er eine weinende Frau an der Bushaltestelle tröstet, dann unbeabsichtigt wegen der räumlichen Enge.
THE LAST BUS ist ein Film über das Altwerden und die Sehnsucht. Timothy Spall hat als Hauptprotagonist beim Film bisher noch nicht größeres Aufsehen erregt, und in manchen Szenen wäre es auch gefühlsmäßig ansprechender, ein breiteres Repertoire an Spiel und Ausdrucksmöglichkeit zu erleben. Aber Spalls markante Gesichtszüge haben einen enormen Einfluss auf die einzelnen Episoden der Reise. Denn ein Merkmal in MacKinnons Inszenierung ist stets eine anfängliche Distanz zwischen Jung und Alt.
Es geht nicht immer um Harmonie und Verständnis. Als Tom in England aus dem Bus geworfen wird, weil sein Freifahrtschein nur in Schottland gilt, dann holt die Geschichte uns wieder herunter auf die Spur des wirklichen Lebens. So wie die Episode mit der Muslima, die ein gutes, aber kein versöhnliches Ende nimmt. So oder, fehlt THE LAST BUS aber dieser besondere Impuls, der die Erzählung in sich zu etwas einzigartigem macht. Dabei bieten sich immer wieder sehr originelle Ansätze.
Die Rückblenden sind wahllos gestreut, und stehen leider nicht im Kontext zu den Ereignissen im Heute, was Toms Reise emotional stärker gebunden hätte. Dass er unwissentlich durch Twitter und Instagram zum Helden der Straße wird ist angenehm unaufdringlich und überraschend nebenbei gesetzt. Ob Landschaft, Dorf oder Stadt, George Geddey an der Kamera nutzt nicht die Möglichkeiten, den diversen örtlichen Gegebenheiten einen eigenen Charakter zu verleihen.
Die Geschichte berührt und überzeugt durch ihre unaufgeregte Erzählweise. Das nicht alle Geschehnisse bis zur maximalen Emotionalität ausgespielt werden, manche sogar unkommentiert enden, ist eine Wohltat. Gillies MacKinnon lässt uns nicht nur teilhaben, sondern manches auch selbst gedanklich weiter ausschmücken. Aber es wäre mehr möglich gewesen, THE LAST BUS als filmisches Erlebnis komplexer und tiefgründiger auszugestalten, und uns als Zuschauende trotzdem weiterhin selbst interpretieren zu lassen.
Darsteller: Timothy Spall, Phyllis Logan, Natalie Mitson, Ben Ewing, Saskia Ashdown, Steven Duffy u.a.
Regie: Gillies MacKinnon
Drehbuch: Joe Ainsworth
Kamera: George Geddey
Bildschnitt: Anne Sopel
Musik: Nick Lloyd Webber
Produktionsdesign: Andy Harris
Großbritannien, Vereinigte Arabische Emirate / 2021
86 Minuten