ATTICA

nominiert: DOKUMENTATION LANG


Attica - Copyright SHOWTIME– DVD oder Showtime/US

Am 9. September 1971 kommt es in der Justizvollzugsanstalt Attica, New York zu einem viertägigen Aufstand der Gefangenen. Danach wird Attica zum Synonym für das, was im amerikanischen Vollzugssystem nicht funktioniert. Und Attica wird zum Begriff eines Staates außerhalb seiner moralischen Verantwortung. Von dieser Gefängnisrevolte gehört zu haben, ist auch außerhalb der Vereinigten Staaten nicht ungewöhnlich. Im Lande selbst sind die Vorkommnisse Teil der Geschichtsschreibung, fest verankert zwischen Vietnam, Watergate, Rassenunruhen und Mordanschlägen auf Personen des gesellschaftlichen Umschwungs. Die Filmemacher Traci Curry und Stanley Nelson führen sehr eindringlich vor, wie ein alltäglich scheinender Zwischenfall zu einem explosiven Spiegelbild eines gesellschaftlichen Unvermögens werden konnte.

Minutiös zeichnen die Filmemacher die Ereignisse zwischen dem 8. und 12. September 1971 nach. Das Filmmaterial besteht hauptsächlich aus Originalaufnahmen jener Zeit, von Nachrichtensendungen, Überwachungskameras und Beobachtern der Polizei. Aktuelles Material beschränkt sich auf Interviews mit seinerzeit Gefangenen, Angehörigen von Wärtern die als Geiseln genommen wurden, und einem Befehlshaber der Nationalgarde.

Selbst für Kundige, die mit Attica vertraut sind, ist der zeitliche Handlungsablauf unheimlich spannend. Gerade in unserer digital aufgerüsteten Welt übersieht man leicht die Umstände seinerzeit vor Ort. Die Ordnungskräfte vor den Gefängnismauern wussten ebenso wenig über die Umstände im Inneren Bescheid, wie den revoltierenden Gefangenen das Aufgebot außerhalb nicht bewusst war. Für beide Seiten war es eine stündlich ansteigende Spannung. Denn es lag in der Natur der Sache, dass keiner dem anderen trauen konnte, oder durfte.

Trotz der verhandelnden Delegation von Vertretern der staatlichen Seite, steigerte sich das Misstrauen. Die Lage wurde absurderweise dadurch abstrakt, weil die Häftlinge vernünftige Forderungen stellten, die ausschließlich ihre Haftbedingungen betrafen. Niemand wollte fliehen, keiner eine Begnadigung, das Strafmaß einzelner oder aller war nie Gesprächsthema. Zudem wurden die 36 Geiseln sehr gut behandelt, und keinen irgendwelchen möglichen Repressalien ausgesetzt.

Der Handlungsverlauf wird immer wieder von den Interviewteilen unterbrochen, in dem die Betroffenen bestimmte Momente kommentieren, ad absurdum führen, aber auch immer wieder vorgreifen. Die besondere, menschliche Note kommt durch die Zeitzeugen selbst, die den geradezu nüchternen Ablauf dann wieder sehr emotional gestalten. Aber von Mitleid oder Parteinahme sind die Macher weit entfernt. Klar wird durch die kommentierenden Aussagen, dass sich eine Revolte schon lange vorher ankündigte und unausweichlich war.

Attica 3 - Copyright SHOWTIME

Ein Teil der 36 als Geiseln gefangenen Wärtern

 

Die Vollzugsanstalt war seinerzeit für 1200 Gefangene ausgelegt, und mit 2200 Straftätern ständig überbelegt. Die Hygienemöglichkeiten waren stark eingeschränkt. Hofgang war auf ein Minimum reduziert. In originalen Telefonmitschnitten zwischen Präsident Nixon und dem verantwortlichen Gouverneur Rockefeller hört man immer wieder, dass keinerlei Interesse an einer Lösung des Konflikts besteht, und nur gewaltsame Stürmung in Frage kommt. Deutlich zu vernehmen: Weil es hauptsächlich Schwarze sind, aber auch ohne Rücksicht auf die Geiseln.

Schon die ersten 90 Minuten der Dokumentation stellen die Nerven auf eine harte Probe, selbst wenn die Geschichte bereits bekannt sein sollte. Schon die immer wieder ernüchternden Verhandlungsversuchen, die allein von den offiziellen Entscheidungsträgern boykottiert werden, machen wütend und lassen verzweifeln. Aber die letzten 20 Minuten erfordern noch einmal eine besondere Form von emotionaler Stärke. Nicht nur bei der brutalen und ganz bewusst rücksichtslosen Erstürmung, sondern auch den darauf folgenden Auswüchsen von menschenverachtenden Torturen. Es macht fassungslos.

Traciy Curry und Stanley Nelson haben ein beeindruckendes Zeitdokument geschaffen, welches lange nachhält. ATTICA steht nicht einfach nur für eine der bekanntesten Gefängnisrevolten, sondern maßgeblich als Zeuge eines Systems, welches versucht sein Versagen mit Unmenschlichkeit zu kaschieren. Attica geschah auch in einer Zeit, wo Politik und Gesellschaft diese Vorkommnisse möglich machten. Was aber gleichzeitig die Frage aufwirft, ob sich bis heute überhaupt etwas geändert hat.

Eines führt dieser Film unumstößlich vor Augen: Was sich über Jahre hinweg aufbaute und zu den Ereignissen in Attica führte, was während des Aufstandes geschah oder versäumt wurde, und die Folgen der Erstürmung, das allein hatte nur eine Seite zu verantworten.

Attica 2 - Copyright SHOWTIME

Nach der Niederschlagung, vor den Demütigungen und Folterungen

als sie selbst: Lawrence Akil Killebrew, George Che Nieves, Al Victory, Alhajji Sharif, David Brosig, Arthur Harrison, Daniel Sheppard (ehemalige Gefangene)
Ann Valone, Maryann Valone, Jaime Valone, Tad Crawford, Michael Whitman, Dee Quinn Miller u.a.

Regie: Traci Curry, Stanley Nelson
Drehbuch: Stanley Nelson
Kamera: Stefan Beaumont, Ryan Bronz, Kevin Burroughs, Ronan Killeen, Antonio Rossi, Bill Winters
Bildschnitt: Jaclyn Lee, Aljernon Tunsil
Musik: Tom Phillips
USA / 2021
116 Minuten

Bildrechte: SHOWTIME

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