WEST SIDE STORY

West Side Story 2 - Copyright DISNEY ENTERPRISES– Bundesstart 09.12.2021

„Prologue“
Wann immer die Neuauflage eines mehr oder weniger bekannten Filmes angekündigt wird, oder dieser startet, melden sich die ungefragten Bedenkenträger. In der Wertung liegt ganz vorne: „Denen fällt wirklich nichts Neues ein“. Dicht gefolgt von: „Bin gespannt, wann jemand auf die Idee kommt von CASABLANCA ein Remake zu machen“. Wobei der Titel mit anderen Klassikern variierbar ist. Während auch CITIZEN KANE oder DER PATE in dieser Aussagenreihe öfter zu finden sind, war ein bestimmter Titel verhältnismäßig wenig vertreten. Aber genau mit diesem ist es geschehen, es ist jemand auf die Idee gekommen, und diese Idee geht schon Jahrzehnte zurück. Der Alptraum eines jeden unbelehrbaren Cineasten ist Wirklichkeit geworden, die Neuverfilmung eines über jeden Zweifel erhabenen Klassikers. Und er ist grandios.

„Something’s Coming“
Der ehemalige Bandenführer Tony und die Näherin Maria lernen sich auf einer Tanzveranstaltung kennen. Eigentlich soll auf diesem Tanz endgültig die Vormachtstellung zweier rivalisierender Banden geklärt werden. Zwischen den Fronten ist es für den Amerikaner Tony und die Puerto-Ricanerin Maria Liebe auf den ersten Blick. Hat Robert Wise im Original die beiden Figuren im bunten und wilden Treiben des Tanzes noch durch Unschärfen und Bildkadrierung in den Fokus gebracht, lässt Spielberg seinen Stamm-Bildgestalter Janusz Kaminski mit starken Gegenlicht und Lichtreflexen den gleichen Effekt erzielen. Andere Tricks, gleiche Resultate. Es ist eines der markantesten Szenen, wie sehr sich Hollywoods ‚Wunderkind‘ der Vorlage verschrieben hat. Zu keiner Zeit will Spielberg besser sein, im weitesten Sinne will er nicht einmal anders sein. Er gibt dem heutigen Publikum das gleiche Gefühl, welches vor genau 60 Jahren Robert Wise mit Jerome Robbins bei ihren Zuschauern auslösten.

West Side Story 1 Copyright DISNEY ENTERPRISES

„America“
Die Jets gegen die Sharks. Die Jets und die Sharks gegen das System. Wieweit Spielberg die Aspekte von ethnischer Ablehnung und Vorurteilen ausgebaut, oder erweitert hat, macht einen großen Teil der Überraschung aus, welche dieser Film präsentiert. Näher darauf einzugehen und den aktuellen Bezug herauszuheben, wäre vollkommen irrelevant, weil die handlungsbestimmenden Bezüge damals wie heute gleichbedeutend sind. Der kulturelle Hintergrund zu einer Liebe die nicht sein darf, hat im Laufe der Jahrzehnte nie an Brisanz verloren, es haben sich nur immer wieder die ethnischen Grenzen verschoben. Auch wenn Lieutenant Schranks Alltagsrassismus stärker herausgearbeitet ist, ist das keine dramaturgische Überhöhung, sondern dem heutigen Zeitgeist angepasst.
Dennoch blieb aus gutem Grund die Zeit der Handlung im Entstehungsjahr 1961 verhaftet. Ganze Straßenblocks werden in der West Side dem Erdboden gleich gemacht, um Wohnraum zu schaffen, der nicht mehr bezahlbar wäre. Der territoriale Kampf von Jets und Sharks ist längst hinfällig, und nur eine trotzige Reaktion auf den Verlust den alle zusammen als Heimat für sich in Anspruch nehmen. Wenn beide Seiten zu spät erkennen, dass jeder von ihnen Amerikaner ist, hat das System längst gewonnen.
Doch in diesen Bereichen wird Spielberg nicht politisch, er setzt auch kein Zeichen, und er moralisiert nicht. Prägnant setzt er die Menschen in den Fokus. Ihm liegen seine Figuren am Herzen, was uns als Zuschauer in die Lage versetzt, dass wir ihnen sehr nahe kommen. Wenn die Jets überlegen von den Trümmern eines Abrisshauses über ihr Viertel blicken, ist es ein trotziger Stolz, der die Ausweglosigkeit zu ignorieren versucht.

West Side Story 3 - Copyright DISNEY ENTERPRISES

„A Boy Like That / I Have A Love“
Die Auswahl der Hauptdarsteller ist überwältigend. Gerade Mike Faist als Riff der Jets und David Alvarez als Bernardo von den Sharks bringen mit ihrer charismatischen Ausstrahlung eine fesselnde Authentizität auf die Leinwand. Sie geben die Starken, aber man bemerkt unterschwellig immer wieder ihre Unsicherheit. Weder Faist noch Alvarez sind Unsympathen, sondern Menschen die man ernst nimmt, für die man gleichermaßen empfindet, an denen einem wirklich etwas liegt.
Mit stark komponierten Bildern und wohldurchdachten Kostümdesign werden die Darstellern zu perfekten Figuren ihrer Zeit. Ob mit abgerissenen Shirts der Jets, dem Maßanzug des Polizisten, oder die farbenfrohen Kleider, die je nach Stimmungslage unmerklich ihr Volumen ändern. Für die Zuschauer wird jeder einzelne im Ensemble zu einem eindringlich einnehmenden Charakter, der eine betanzte und besungene Szenerie glaubhaft und real macht.
Ganz klar hervorzuheben ist hier Ariana DeBose als Anita. Keine Unbekannte in der Musical- und Musikkultur, setzt sie hier ein klares Zeichen, dass sie mit ihrer starken Ausstrahlung für viel mehr geschaffen ist, und man in Zukunft mehr von ihr sehen wird. Wenn es allerdings um die Besetzung von Ansel Elgort als Tony geht, kann der meist zutreffende Spruch ignoriert werden, dass jede Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied wäre. Zweifellos überzeugt Elgort mit seiner Singstimme, der einzige Darsteller der zwei Lieder Live am Set intonierte. Aber ihm fehlt einfach das überzeugende in seinem Spiel, was seine Figur ehrlich erscheinen lassen würde. Doch seine zweifelhafte Besetzung verschwimmt in der Fülle von fantastischen Darstellern und den Energie geladenen Settings.

West Side Story 4 - Copyright DISNEY ENTERPRISES

„I Feel Pretty“
Das Kameramann Janusz Kaminski zu den Beliebtesten seiner Zunft gehört, ist unbestritten. Beweisen musste er sich also kaum, aber mit diesem Film hat er mehr als seine Reputation gefestigt. Ein gelungener Film ist ein Konstrukt aus exzellenten Leistungen vieler unterschiedlicher Faktoren. Bei diesem Film ist die aufregende Kameraarbeit Kaminskis das Herzstück. Sicht- und spürbares Ziel war einem 60 Jahren alten Film mit Respekt und Ehrerbietung Tribut zu zollen.
Spielberg hat mit Kaminski die Essenz des Originals erfasst und übertragen. Es war klar, dass Daniel Fabbs einmalige Gestaltung und Temperament von 1961 nicht kopiert werden konnte. Aber Kaminski schafft es, die selbe mitreißende Energie in den einzelnen Sequenzen aufzubauen, auch wenn er entliehene Einstellungen anders akzentuiert und eine eigene Bildchoreografie inszeniert. Die hier durchaus gelungene Kunst ist es, eine ganz eigene optische Ästhetik zu schaffen, aber eine wiedererkennbare Dynamik auf der Leinwand zu entfachen. Choreograf Justin Peck hält sich gerade bei den markanten Tanzfiguren an Jerome Robbins Choreografie von damals. Die opulenten Tanzchoreografien faszinieren in ihrer spielerischen Eleganz gleichermaßen.
Aber nicht nur die Tanzszenen sind so mitreißend neu gestaltet. In seiner gesamten bildlichen Gestaltung ist der Film aus einem passend durchkomponierten Fluss, in dem ganz starke Kontraste das Bild dominieren. Die Kamera erlaubt nur in sehr ausgewählten Szenen Unschärfen, ansonsten ziehen die Motive mit ihren scharfen Zeichnung förmlich in die Leinwand hinein.

West Side Story 9 - Copyright DISNEY ENTERPRISES

„One Hand, One Heart“
WEST SIDE STORY zeichnete sich als Musical immer dadurch aus, dass die Musik und Tanzeinlagen fließend in die Handlung integriert waren. Es ist eine stete Vermischung von Gesang und Dialog die Steven Spielberg durchweg gelungen nutzt, um keine Ermüdungserscheinung im Handlungsverlauf zuzulassen. Aber auch weil die Regie in jeder Sequenz exakt den richtigen Punkte bildlich, akustisch oder mit beidem bekräftigt. Und der Regisseur hat selbst den Abspann inszeniert, was sonst eine eigene Kreativabteiung übernimmt. Steven Spielberg hat etwas Bemerkenswertes geschaffen. Die Sprache ist derber, die Faustschläge brutaler, doch können Liebhaber des Originals durchaus erkennen, dass Robert Wise und Jerome Robbins mit 60 Jahren Abstand ihren Film genauso inszeniert hätten.
Seit Steven Spielberg 1975 eigentlich wegen technischer Probleme den Blockbuster mit DER WEISSE HAI sozusagen erfunden hat, wurde durch ihn das Kino immer wieder revolutioniert. Näher darauf eingehen muss man wohl kaum. Aber genau dieser Mann hat immer verstanden wie Kino funktioniert. Kino in seiner ganzen Bandbreite mit all seinen Aspekten, sei es die Atmosphäre im Auditorium selbst, die Wirkung einer großen Leinwand, das Gespür für einnehmende Inszenierung, die Wirkung aller künstlerisch technischen Branchen. Steven Spielberg macht Kino wofür Kino erfunden wurde.
Wenn eine Verfilmung wie diese so fulminant gelungen ist, dann weil es ein durch und durch stimmiges Ineinandergreifen aller Gewerke ist, die sich nicht einfach ergänzen, sondern aufeinander aufbauen. Wie es bei harmonischen Produktionen schon immer der Fall war. Bei einer Neuauflage eines unbestrittenen Klassikers verlagert sich allerdings die Aufmerksamkeit merklich. Weil der Name Spielberg im Wege stand, waren die zweifelnden Stimmen kaum hörbar. Doch ein spürbar erleichtertes Aufatmen ist nach 150 Minuten während des Abspanns zu vernehmen. Der Balanceakt zwischen Werktreue und Modernisierung ist bravourös gelungen.
In Art und Umfang wie die Rolle von Rita Moreno, Oscar-Preisträgerin 1962 für beste Nebenrolle in WEST SIDE STORY, in Spielbergs Fassung eingearbeitet wurde, ist kein Gimmick, sondern wesentlich und stimmig. Vor allem ist wohl eine der bemerkenswertesten, weil gelungensten Ehrerbietungen im Kino bisher.
Steven widmet diesen Film seinem Vater Arnold, der kurz vor Produktionsende verstarb.

„The Rumble“
Wer in der deutschen Fassung auf die Untertitel der Liedtexte angewiesen ist, sollte sich bereits im Vorfeld über deren Inhalt informieren. Die Untertitelung welche Disney für die deutsche Fassung erstellt hat, entspricht textlich nicht den Originalen, und selbst inhaltlich geben sie nur bedingt den Charakter der Songs wieder.

West Side Story 6 - Copyright DISNEY ENTERPRISES

 

Darsteller: Ansel Elgort, Rachel Zegler, Ariana DeBose, David Alvarez, Brian d’Arcy James, Corey Stoll, Mike Fast, Josh Andrés Rivera Iris Menas und Rita Moreno u.a.
Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Tony Kushner
nach dem Bühnenstück von Arthur Laurents
Musik: Leonard Bernstein
Texte: Stephen Sondheim
Choreografie: Justin Peck
Kamera: Janusz Kaminski
Bildschnitt: Sarah Broshar, Michael Kahn
Produktionsdesign: Adam Stockhausen
USA / 2021
158 Minuten

Bildrechte: DISNEY ENTERPRISES

 

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