HOPE GAP
– Bundesstart 29.07.2021
Die Gespräche zwischen Grace und Edward haben nach 29 Jahren Ehe viel mehr philosophischen Charakter, anstelle von persönlicher Tiefe. Grace arbeitet an einer Anthologie von Gedichten der Meister, während Edward aktuell Napoleons Russlandfeldzug in der Schule unterrichtet. Zuhause sitzen beide an ihren Schreibtischen, jeweils Fensterseite, was auch bedeutet, dass sie Rücken an Rücken zueinander ihrer Freizeit nachgehen. Edward korrigiert oder verfasst mit Leidenschaft Artikel für Wikipedia, so wie Grace ihre ausgewählten Gedichte für sich selbst rezitiert. An einem dieser Nachmittage antwortet Edward mit einer zuerst sehr kryptischen Gegenfrage: „Kann jemand etwas über einen gewissen Punkt hinaus vervollständigen?“
In den ersten Minuten erscheint es so, als ob sich das Paar tatsächlich vervollständigt hätte. Doch zu diesem Zeitpunkt hat Edward längst eine unveränderliche Entscheidung getroffen. Er ist es, der über jenen gewissen Punkt der Vervollständigung nicht hinaus kommt.
Autor und Regisseur William Nicholson gibt an, dass die Ereignisse in HOPE GAP auf seinen persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen basieren, als sich seine Eltern überraschend trennten. Mit 33 Jahren glaubte Nicholson als gefestigter Erwachsener Lebenskrisen meistern zu können. Das hat er sicherlich, allerdings mit schmerzlichen Nebenwirkungen. Im Film heißt er Jamie, der zwischen seinen Eltern steht, und sich selbst mit festen Beziehungen schwer tut. Aber Nicholson geht darauf nur sehr vage ein. Ihm genügt es aufzuzeigen, wie sich eine Trennung auf das Umfeld aller auswirkt. Und genau da verliert der Film an emotionaler Kraft und nachvollziehbarer Eindringlichkeit.
Auch wenn hier, wie in den meisten Trennungen, die Initiative vom männlichen Teil der Beziehung ausgeht, umgeht die Erzählstruktur ganz klar eine Position zu einer Art Schuldzuweisung. Das sich 29 Jahre Ehe, die durch Liebe und Respekt getragen wurde, nicht auf 100 Filmminuten herunter brechen lassen, ehrt die Absicht von William Nicholson für den Zuschauer neutral zu bleiben. Noch schwieriger wäre es, das komplexe Geflecht einer Beziehung aufzulösen und ihre individuellen Feinheiten rational zu analysieren. Selbst dann würde das ein Scheitern so einer bedeutenden Lebensspanne nicht hinreichend erklären, um für Außenstehende nachvollziehbar zu werden.
Mit einem Ensemble wie Bening, Nighy und O’Connor hätte man viel mehr wagen können, als nur ein schmerzhaftes Kratzen an der Oberfläche. Doch genau dabei strauchelt die Geschichte, weil die Figuren nur beispielhaft bleiben, und ihnen kaum ein tieferer Hintergrund gegönnt ist. Es wird zunehmend unbefriedigender, dass der Zuschauer jeder Figur nach empfinden kann und Verständnis für beide Seiten aufbringt, ihm aber eine eigenständigere Betrachtung und Abwägung verwehrt bleibt.
Benings Grace bewegt sich ständig am Rand einer hysterischen Opportunistin, die selbstsüchtig und uneinsichtig zur seelische Belastung wird, anstatt empathisches Mitgefühl zu wecken. Als neutraler Beobachter kann man viel mehr Verständnis dafür aufbringen, dass sich Edward von ihr trennen will, als das man begreift, wie diese Beziehung überhaupt funktioniert hat. Im Umkehrschluss zeigt sich Edward als viel zu sensible und emotional Seele, in der man nicht zu erkennen vermag, warum eine starke Persönlichkeit wie Grace all die Jahre in ihrer Ehe zufrieden sein konnte.
HOPE GAP ist ein stark gespieltes Drama, dessen Darsteller immer wieder unter die Haut gehen. Aber genauso schnell lässt die Inszenierung ihren Griff wieder locker, weil einfach die Substanz fehlt, mit dem die Figuren ansprechend unterfüttert werden. Was William Nicholson als erzählerischen Kunstgriff beabsichtigte zu vermeiden, fehlt dem Film letztendlich. Und das ist die Möglichkeit, dass man selbst eine klare Position für sich entwickeln kann. Selbst wenn sie emotional einseitig sein würde.
Darsteller: Annette Bening, Bill Nighy, Josh O’Connor, Aiysha Hart, Ryan McKen u.a.
Drehbuch & Regie: William Nicholson
Kamera: Anna Valdez-Hanks
Bildschnitt: Pia Di Ciaula
Musik: Alex Heffe
Produktionsdesign: Simon Rogers
Großbritannien / 2019
100 Minuten