Netflix seit 30.12.2020
EQUINOX
Es ist 1999. Während einer Abschlussfeier verschwinden 21 Schulabsolventen spurlos. Selbst 20 Jahre nach dem ungeklärten Ereignis wird Astrid von Alpträumen begleitet und peinigt, ihre Schwester Ida zählt zu den noch immer Vermissten. Als sich einer der vermeintlich Überlebenden bei Astrid meldet, dass Ida noch am Leben sei, will sie trotz ihrer labilen Gemütsverfassung das Rätsel endgültig lösen. Und dabei ist dem Zuschauer durchaus angetragen, nicht die Gedanken anderweitig schleifen zu lassen. Zweifellos ist diese Serie von den beiden Regisseuren Søren Balle und Mads Matthiesen sehr ruhig und äußerst gemächlich inszeniert. Doch einige der nebensächlich scheinenden, oder belanglos wirkenden Szenen können bereits erklärende Hinweise sein.
Kein Zweifel, dass goldene Kalb der paranormalen Mystery-Streaming-Welt ist STRANGER THINGS. Das Netflix mit einer deutschen Produktion wie DARK nachzog, war nicht verwunderlich, musste doch dem Interesse der dürstenden Gemeinde nachgekommen werden. Das eine so penibel durchdachte und vorbereitete Serie wie DARK derart schnell die Lücke zwischen zweiter und dritter Staffel von STRANGER THINGS füllen konnte, ist ein Zeichen, dass die deutsche Mystery-Serie wohl schon länger bereit in der Schublade lag.
In diesem hypothetischen Gedankenspiel muss dieser Umstand Netflix gerade sehr entgegen kommend gewesen sein. Und der Erfolg gab diesem Gespür auch Recht. Was nationalen Sendern finanziell zu riskant ist, wurde Konzept für ein international abrufbares Medienunternehmen. Einzelne Länder können ihr individuelles übernatürlich angehauchtes Mystery-Spiel beisteuern, wie Italien zum Beispiel mit CURON. Zeitreisen, Parallelwelten, Geistergeschichten, und aus Dänemark nun EQUINOX.
Mit eindrucksvoller Verbissenheit gibt Danica Curcic ihrer erwachsenen Astrid die notwendig glaubwürdige Energie einer von Psychosen getriebenen Frau. Und je weiter sie zum Kern des Geheimnisses vordringt, desto kaltschnäuziger und rücksichtsloser wird sie. Aber man kann auch erkennen, dass bei ihr der Wahnsinn immer mehr an die Oberfläche tritt. Aber in dem Sammelsurium von undurchsichtigen Charakteren ist Curcic nicht die allein tragende Figur. Denn jeder in dieser Geschichte trägt sonderbare Züge.
Für den Zuschauer wird schnell unmissverständlich, dass Astrids panikartige Zustände wirklich in Zusammenhang mit dem Übernatürlichen stehen. So kristallisiert sich als Stärke der sechsteiligen Serie, die Rollenbeschreibungen von Curcics Mitspielern heraus. Sehr geschickt verbergen die Drehbücher die Intentionen und Motivationen der Charaktere vor dem Zuschauer. Alles wäre möglich. Dass sie ehrlich um Astrids Wohlergehen besorgt sind, sich eigennützig selbst vor der Auseinandersetzung mit der Tragödie schützen wollen, oder ein Geheimnis bewahren müssen.
Was die Drehbücher sehr gut vorgeben, können die international weitgehend unbekannten Darsteller kaum erfüllen. Als treusorgender Vater ist Lars Brygman viel zu stoisch, seine scheinbare Fürsorge wirkt weder ehrlich noch glaubwürdig, eher unbeholfen und fehl. Umgekehrt spielt Hanna Hedelund als Mutter Lene viel zu offensiv, was ihren an sich spannenden Charakter überzogen und immerzu nervig erscheinen lässt.
Ein psychologisches Drama, welches auch ohne die paranormalen Aspekte funktionieren würde, misslingt EQUINOX an entscheidender Stelle. Das ist sein Hauptcharakter Astrid. Was bei den Nebendarstellern an Überzeugungskraft fehlt, verkehrt sich bei Danica Curcic. Ihre Figur ist einfach nicht überzeugend, als Beobachter leiden wird nicht mit ihr. Astrid wird einem in ihrem manischen Egoismus irgendwann einfach gleichgültig.
Man muss an dieser Stelle zumindest die Make-up Abteilung um Katrine Tersgov hervorheben. Die altersbedingte Veränderung bei Hedelund, welche 20 Jahre umspannt, ist nicht als Maske zu erkennen. Der Film affine Nerd kann hier wirklich nur raten, ob man die Schauspielerin älter gemacht hat, oder verjüngte. Der Effekt ist jedenfalls verstörend real.
So krankt auch EQUINOX auch etwas mit der Geschichte vor sich hin. Die spärlich gesetzten Spannungsmomente ergeben sich entgegen des eigentlichen Erzählrhythmus etwas plötzlich, und verfliegen auch dementsprechend. Es wäre durchaus so vertretbar, und zuweilen auch sehr interessant zu verfolgen, hätte man den Handlungsverlauf nicht so verbissen geradlinig erzählt. Selbst die immer währenden Sprünge in den Zeitebenen erzeugen kaum Spannung. Auch wenn immer wieder versucht wird, das übernatürliche Moment als Verwirrung stiftendes Stilmittel in Frage zu stellen.
Erst in der letzten Folge ‚Blut Fließt Wie Das Wasser Im Fluss‘ ergeben sich für den Zuschauer drei Möglichkeiten, das Geheimnis für sich zu entschlüsseln. War er zuvor immer nur Beobachter, der mit vollendeten Tatsachen konfrontiert wurde, wird er am Ende regelrecht überfordert. Ob die endgültige Auflösung zufriedenstellend ist, welche sogar eine Weiterführung der Geschichte ermöglicht, liegt ganz im Auge des Betrachters.
Darsteller: Danica Curcic, Lars Brygman, Karoline Hamm, Viola Martinsen, August Carter, Ask Truelsen, Hanne Hedelund, Fanny Bornedal, Alexandre Willaume u.a.
Regie: Søren Balle, Mads Matthiesen
Drehbuch: Mette Kruse, Tue Walin Storm, Andreas, Garfield, Jacob Katz Hansen, Bo Mikkelsen, Mie Skjoldemose
Serien Schöpferin: Tea Lindeburg
Kamera: Laust Trier-Mørk, Mattias Troelstrup
Musik: Kristian Leth, Fridolin Nordsø
Produktionsdesign: Knirke Madelung
Dänemark – USA / 2020
6 Episoden
270 Minuten