STILLWATER – Gegen jeden Verdacht

Stillwater - Copyright FOCUS FEATURESSTILLWATER
– Bundesstart 09.09.2021

Dies ist die Geschichte von Bill, der in Oklahoma auf Ölplattformen oder bei Abbruch von Häusern arbeitet. Seit fünf Jahren reist er in regelmäßigen Abständen nach Marseille, Frankreich, um seine wegen Mordes inhaftierte Tochter Allison zu besuchen. Dies ist die Geschichte von Allison und Bill, die als Vater und Tochter erst eine intensive Beziehung aufbauten, als sie verurteilt wurde, ihre Kommilitonin und Freundin ermordet zu haben. Es ist aber auch die Geschichte von Virginie, eine alleinerziehende Mutter, die einem Arbeiter aus der unteren Mittelschicht hilft, sich in einer ihm fremden Welt orientieren zu können. Aber STILLWATER ist noch soviel mehr, aber vor allem ganz anders, als reißerische Trailer und Plakate glauben machen wollen.

Tom McCarthys Abriss eines einfachen Lebens aus dem amerikanischen Herzland, ist ein Geschichte mit sehr vielen Beziehung. Die Schicksale der einzelnen Figuren kreuzen und überlagern sich, sie verschmelzen ineinander, und brechen auch wieder auf. Das Matt Damon nicht eine neue Variante von Liam Neesons „dann werde ich dich finden, und dann werde ich dich töten“ Typus wird, erkennt man schnell an der feinen Zeichnung seines Charakters. Stets sauberes kariertes Hemd, ein ehrliches Gebet zu allen sich bietenden Gelegenheiten, und jedes Gespräch mit einem respektvollen „Yes, Ma’am“, oder „No, Sir“.

In einer stereotypen Dramaturgie würde Bills typisches Malocher-Outfit konterkarierend zu seinem Benehmen wirken. Aber das ist auch der Kern von Tom McCarthys Geschichte, der das ehrliche Bild eines ebenso ehrlichen Menschenschlages zeichnen will. Teil dieser Absicht wird auch die Besetzung von Matt Damon sein, der ja eigentlich auch sehr gut Jason Borne sein kann. Und auch hier findet McCarthy seine Geschichten, wenn er seinen eigentlich gefestigten All-American-Guy aus seiner vertrauten Umgebung reißt. Es sind kleine Anekdoten von gesellschaftlichen Differenzen. Sie sind unterhaltsam, aber nicht auf ‚Humor um jeden Preis‘ inszeniert. Wobei die Beantwortung der Frage eines Franzosen unbezahlbar ist, ob Bill Trump gewählt hat.

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Bills Reise durch Marseille wird gleichzeitig zu einem Streifzug durch die unterschiedlichen Ansichten und Gepflogenheiten zweier Kulturen. Als Kino affiner Zuschauer nimmt man jedes Land in der Form seiner Darstellung als bekannt und gegeben hin. Im Aufeinandertreffen der verschiedenen Blickwinkel entwickelt sich dabei ein überraschend anderes Verhältnis. Weil STILLWATER eben echt bleibt, wo andere Filme ähnliche Situationen für übertriebenen Klamauk nutzen. Und dafür wäre an dieser Stelle wirklich kein Bedarf, wenn sich für Allison neue Erkenntnisse ergeben, die endlich ihre Unschuld beweisen könnten, und Bill trotz fehlender Sprachkenntnisse versucht abgeschlossene Mechanismen vergeblich wieder in Gang zu bringen.

Im Gesamten mag die Geschichte nicht sonderlich originell erscheinen, weil sie bekannt klingt und schon in verschiedenen Variationen und Genres erzählt wurde. Was aber Tom McCarthy mit STILLWATER macht, ist eine betont ruhige Inszenierung, die immer im exakt richtigen Augenblick eine Lawine von Emotionen los tritt. Und dann eben keine sentimentalen Gefühlsduseleien, sondern reale Stimmungen die nachvollziehbar bleiben, manchmal wütend machen oder verzweifeln lassen. Trotzdem, oder vielleicht auch genau deswegen, ist dieser Film viel mehr Psychothriller als pures Drama. Er ist sehr intensiv, hält seine Spannung und rechtfertigt seine relativ lang anmutende Laufzeit.

Dass die letzte halbe Stunde in Ton und Struktur etwas abweicht, ist einer in sich geschlossenen Geschichte geschuldet, die schlichtweg fertig erzählt werden muss. Die ersten zwei Akte überraschen durchaus auf sehr angenehme Weise, weil sie ständig mit den Erwartungen spielen, aufbauen und verwerfen. Die Verbindung von Camille Cottin und Damon wirkt zuerst wie der klassisch Klischee behaftete Aufbau einer sich anbahnenden Beziehung. Aber Regisseur McCarthy kann ihr Zusammenspiel sehr glaubwürdig und greifbar in Szene setzen. Wie sie sich annähern, immer darauf bedacht, alles normal und natürlich als Zweckgemeinschaft erscheinen zu lassen, das funktioniert natürlich nur mit dieser einnehmenden Chemie zwischen Cottin und Damon.

Genau wie das Vater-Tochter-Verhältnis zwischen mit Abigail Breslin, wo man gerade in den Szenen sichtlicher Abneigung und Ablehnung, die seelische Verbundenheit und innige Liebe fühlen kann, ohne das der Regisseur dramaturgische Unterstützung in Dialog, Bild und Musik benötigt. Das macht die endgültige Auflösung der Geschichte am Ende umso aufwühlender und emotional eindringlicher. Die Geschichte von Bill, der eigentlich auf Ölfeldern und bei Abbruchfirmen arbeitet, ist mit seinen vielen kleinen Verästelungen mehr als nur eine einzige Geschichte, sondern unerwartet vielschichtig und überraschend fesselnd. Es ist angebracht und nicht negativ belastet, wenn man STILLWATER als Mainstream-Kino beschreibt, weil er immer noch auf sehr hohem Niveau erzählt ist.

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Darsteller: Matt Damon, Camille Cottin, Lilou Siauvaud, Abigail Breslin, Deanna Dunagan, Anne Le Ny, Moussa Maaskri, Idir Azougli u.a.
Regie: Tom McCarthy
Drehbuch: Tom McCarthy & Marcus Hinchey und Thomas Bidegain & Noé Debré
Kamera: Masanobu Takayanagi
Bildschnitt: Tom McArdle
Musik: Mychael Danna
Produktionsdesign: Philip Messina
USA / 2021
139 Minuten

Bildrechte: FOCUS FEATURES
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