– Bundesstart 22.07.2021
IN THE HEIGHTS ist ein überlanges Musical, dass musikalisch und inhaltlich ohne über den Tellerrand zu blicken, auf Latinos ausgerichtet ist. Das man sich selbst als Mitteleuropäer nur schwerlich dem Charme dieser nicht sehr anspruchsvollen Geschichte widersetzen kann, ist dem unbändigen Rhythmus dieses Films zu verdanken. Nicht dem Tempo. Denn IN THE HEIGHTS lässt schnell erkennen, dass er sich gerne Zeit nimmt. An einigen Stellen verliert sich die Inszenierung geradezu in ausschweifenden Längen. Aber seinen immerzu treibenden Rhythmus hält der Film. Er ist eben der Pulsschlag dieses New Yorker Stadtteils, der hauptsächlich von Dominikanern und Puerto-Ricanern bewohnt wird. In Washington Heights sind sie keine Minderheit mehr, aber die Sehnsucht nach der ursprünglichen Heimat ist geblieben. So wie bei Usnavy, der jeden Morgen mit den Worten grüßt, „der beste Tag meines Lebens“, und dabei auf das Bild mit seinem Vater an einem Strand in der Dominikanischen Republik schaut.
Der Einstiegssong ‚In The Heights‘ ist auch gleich der Song, der wirklich beim Zuschauer hängen bleibt. Die Kamera ist ständig in Bewegung. Jedes Geräusch ist gleichzeitig Taktgeber und Instrument. Das Schlagen der Tür, die vorbeifahrenden Autos, der hechelnde Hund, sogar der Schuh der in einen Kaugummi tritt. Usnavy erklärt uns den Stadtteil, er erzählt von den Menschen, alles während er seinen Gemischtwarenladen an der Ecke öffnet und für Kundschaft vorbereitet. Musikalisch stellt er uns verschiedene Personen vor, bis alles in einer phänomenalen Choreografie auf einer Kreuzung mit vier Straßen kulminiert.
Es ist schwer vorstellbar, wie eine derartiges Superlativ an Musik und Tanz auf einer Bühne gewirkt haben soll. Auf der großen Leinwand wirkt es, als hätte Lin-Manuel Miranda, selbst puerto-ricanischer und mexikanischer Abstammung, nie etwas anderes im Sinn gehabt, als er mit IN THE HEIGHTS den Grundstock seiner Karriere als Musik-Erzähler schuf. Selbst wenn an dieser Stelle Jon M. Chu die Inszenierung namentlich anführt, ist bei diesem Film spürbar, was Thomas Kail bei der Regie der Bühnenshow von HAMILTON noch verwehrt blieb. Es sind Mirandas Kreationen, seine Musik, seine Texte. Man müsste sehr naiv sein, um nicht zu sehen, zu hören und zu erleben, wer die Erziehung dieser Kinder übernommen hatte.
Es geht um Liebe und Familie. Es geht um Träume und Sehnsüchte, um Freunde und Freundschaft. Und es geht um Loyalität und Integrität. Alles fließt hier unentwegt ineinander. Dabei sind die Songs keine bleibenden Ohrwürmer, keine ausgefeilten Hip-Hop- oder Salsa-Stücke, es sind vertonte Dialoge ohne eingängige Melodien, oder stehender Musikrichtung. Es fehlen einfach diese drei oder vier herausstechenden Hits, die dem Musical eine dramaturgische Form geben, und emotionale Eckpfeiler bilden. Höhepunkte werden mit visuellen Extravaganzen gesetzt. Wie der vertikale Tanz an einer Hauswand, oder ein Straßenzug, der komplett mit Stoffbahnen verhüllt wird.
Natürlich hat Lin-Manuel Miranda auch einige Themen eingeflochten, die den Alltagsrassismus gegenüber Latinos aufzeigen. Aber anstatt an einer tieferen Betrachtung dieser Probleme interessiert zu sein, versteift sich das Musical auf sein unverletzliches Credo von Gemeinschaft und dem Glauben, dass jeder sein Schicksal selbst bestimmt. Das ist schon allein deshalb so ermüdend, weil sämtliche Handlungselemente auch den typischen Charakter von mit Liedern unterstützten Musikfilmen haben. Ihre Auflösung ist schon lange vorhersehbar. An vielen Stellen gibt sich der Film so durchweg positiv und auch unbekümmert, wo eine kritischere Betrachtung gewisser Fallstricke gar nicht verkehrt gewesen wäre.
Als Hauptfigur erweist sich Anthony Ramos in der Rolle des Usnavy einfach genial besetzt. Nicht nur die Erklärung seines ungewöhnlichen Namens ist ein wunderbarer Lacher, immer wieder glänzen im Handlungsverlauf geniale Einfälle, einige hintersinnig, andere brüllend komisch. Doch bestimmt wird IN THE HEIGHTS von der atemberaubenden Kameraarbeit, wo Alice Brooks versteht bildgenau die Akzente zu setzen. Jede Sequenz ist hier sehr akribisch durchkomponiert, was aber erst durch Myron Kersteins perfekten Schnitt den packenden Rhythmus erfährt. Hier sind zwei ganz klare Vorreiter für kommende Preisverleihungen. Aber der Rhythmus bestimmt nicht das Tempo. Und Tempo hätte die Inszenierung durchaus vertragen.
Darsteller: Anthony Ramos, Melissa Barrera, Leslie Grace, Corey Hawkins, Olga Merediz, Jimmy Smits, Gregory Diaz IV u.a.
Regie: Jon M. Chu
Drehbuch: Quiara Alegría Hudes
Bühnenmusical von Lin-Manuel Miranda & Quiara Alegría Hudes
Kamera: Alice Brooks
Bildschnitt: Myron Kerstein
Musik, Songs & Texte: Alex Lacamoire, Lin-Manuel Miranda, Bill Sherman
Choreographie: Christopher Scott
Produktionsdesign: Nelson Coates, Mon Uddin
United States / 2021
143 Minuten