RIDERS OF JUSTICE
RETFÆRDIGHEDENS RYTTERE
– Bundesstart 23.09.2021
Die Besprechung basiert auf der Prime Video Fassung in Originalsprache mit englischen Untertiteln.
Es ist nicht unbedingt ein langer, dafür sehr fruchtbarer Weg, den Regisseur Anders Thomas Jensen mit Mads Mikkelsen bisher gegangen ist. In seinen nur fünf Spielfilmen seit 2000, besetzte Jensen stets Mikkelsen in der Hauptrolle. Skift aldrig et vinderhold, denkt sich der schlaue Däne. So gehört auch Nicolas Bro zu Jensens Stammmannschaft. Oder Nikolaj Lie Kaas, der Freunden von skandinavischen Krimis in vier Jussi Adler-Olsen Verfilmungen die Stimmung verdüstern durfte. Und auch Komponist Jeppe Kaas ist Teil der Familie. Und um die Kausalitätskette zu erweitern, hat Jensen obendrein das Drehbuch zu Kristian Levrings SALVATION geschrieben, wo Mads Mikkelsen in einem der besten Western der Neuzeit brillierte. Skift aldrig et vinderhold, never change a winning team. Und das ist die absolute Stärke bei HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT.
Wieder einmal ein dummer deutscher Titel, der ein deutsches Publikum wegen falscher Assoziationen abschrecken könnte. Umso mehr schmerzt es, zugeben zu müssen, dass dieser Titel ziemlich gut ein leicht zu verkennendes Kernthema des Films beschreibt. Die Wissenschaftler Lennart und Otto haben nämlich einen Algorithmus entwickelt, der mit einer Reihe verschiedener Geschehnisse, ein zukünftiges Ereignis vorhersagen kann. Die erfolgreiche Demonstration vor einem Kommittee hat ihre Kündigung zur Folge, wie es ihr eigener Algorithmus vorhersagte.
Aber die Kette der Ereignisse beginnt eigentlich schon früher, mit dem Wunsch eines Mädchens nach einem blauen, anstatt eines roten Fahrrades. Auf skurril feinhumorige Weise, wie es skandinavischen Filme in jedem Drehbuch vorverfasst zu sein scheint, erzählt Anders Thomas Jensen eine sehr alltäglich scheinende Geschichte. Nur das diese Geschichte eine ganz besondere Dynamik erlangt, weil sie ihren ehrlichen und feinsinnigen Humor nicht von der großen Tragödie trennt, sondern sie in untrennbarer Wechselwirkung zeigt. Ebenfalls eine Eigenart mit der man Filme aus Dänemark, Schweden, oder Finnland definieren kann. Weil Lennart und Otto gefeuert wurden, stirbt eine ihnen unbekannte Frau bei einem vermeintlichen Anschlag.
Das liest sich verständlicherweise wie der Fahrplan einer aufgedrehten Komödie mit Screwball-Elementen. Und HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT hätte dies durchaus auch sein können. Aber Jensen nimmt seine Geschichte ernst, er nimmt seine Figuren ernst, und unter dem Deckmantel von leichter Komödie gestaltet er einen mitreißenden Blick auf das Wesen seiner Figuren und deren Sinnfindung. Wer befürchtet, daraus würde sich ein tiefenpsychologischer Gedankenkomplex entwickeln, der behält durchaus Recht. Nur das Jensen dies vollkommen anders inszeniert, als man annehmen würde, weil er dazu nicht in eine depremierende Tragödie abtauchen muss.
Die getötete Frau ist Emma, Gattin des im Ausland stationierten Markus. Ein stoisch, rationaler Mensch, der bisher seine Militärkarriere einer gesunden Familienbeziehung vorzog. Markus sieht nur einen einzigen Ausweg aus dem Schmerz über den Verlust seiner Frau. Der Anschlag im Zug galt einem Kronzeugen, der gegen eine kriminelle Motorrad-Bande aussagen sollte. So lautet die Beweisführung nach Lennart und Ottos Algorithmus, was dem empathielos scheinenden Markus sehr gelegen kommt. Er tut, was er als Soldat am besten kann, und beginnt eine mörderische Jagd auf die Hintermänner des Anschlags.
Für den Zuschauer wird es eine brutal unterhaltsame Achterbahnfahrt. Doch Anders Thomas Jensen zelebriert Gewalt nicht, auch wenn sie explizit dargestellt ist. Vielmehr überrascht es, dass die blutigen Ausbrüche im ganzen emotionalen Umfeld der Figuren eine seltsame Natürlichkeit bekommen. Jensen hat seine Charaktere zu gut beschrieben, und die Darsteller ihre Rollen so überzeugend verinnerlicht, dass die Tragik und Menschlichkeit im Wesen der Filmfiguren immer die Oberhand behalten. Und das funktioniert so gut, weil bei jedem einzelnen der unfreiwillig verschworenen Gruppe stets auch deren Unzulänglichkeiten die größte Sympathieträger sind.
Es sind keinesfalls Karikaturen, oder überzogene Spaßmacher. So manche Schwäche, welche den Zuschauer zuerst einmal erheitert, entpuppt sich bei näheren kennenlernen als bedauernswerte Neurose. Ohne sich über die Menschen lustig zu machen, wird sehr viel über sie gelacht, nur dass die Stimmung unvermittelt zu einem mitreißenden Drama umschlägt. Doch bei aller Faszination für die Figuren, sollte man nicht vergessen, dass die Geschichte ebenso ein sehr eindringlicher und wirkungsvoller Kommentar ist: Auf Technikhörigkeit, und den unbändigen Drang des Menschen alles erklären und verstehen zu müssen. Und auf das Unvermögen, das Schicksal als solches zu akzeptieren.
Am Ende gibt es einen Zirkelschluss, der nur scheinbar nichts mit der Geschichte zu tun hat. Aber genau dieser ist der eigentliche Kern der Erzählung. Alles hängt zusammen, und dennoch muss nichts miteinander zu tun haben. Die Auflösung vom Hintergrund von Michaels Feldzug ist so überraschend wie logisch. Anders Thomas Jensen gibt dem Zuschauer mit seiner stringenten Inszenierung und einem Ensemble von ganz hervorragenden Schauspielern, einiges zum Nachdenken mit auf den Weg. Aber auch sehr berührende, dramatische Momente. Und sehr viel zum schmunzeln und noch mehr zum kichern. HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT ist erneut Zeugnis, dass die Skandinavier noch immer die ehrlichsten und humorvollsten Dramen machen.
Darsteller: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Andrea Heick Gadeberg, Lars Brygman, Nicolas Bro, Gustav Lindh u.a.
Drehbuch & Regie: Anders Thomas Jensen
Kamera: Kasper Tuxen
Bildschnitt: Andreas Albjerg Kristiansen & Nicolaj Monberg
Musik: Jeppe Kaas
Produktionsdesign: Nikolaj Danielsen
Dänemark – Finnland – Schweden / 2021
116 Minuten