Dieser Beitrag ist bereits am 31.10.2021 im Rahmen des Fantasy Filmfest erschienen.
Beitrag des Fantasy Filmfest 17.10. – 7.11.2021
ERÖFFNUNGSFILM
– Bundesstart 02.12.2021
Es ist zweifellos David Scheunemanns Produktionsdesign, dass nicht einfach nur ins Auge sticht, sondern begeistert. GUNPOWDER MILKSHAKE ist in jeder Hinsicht zeitlos. Hier trifft Neon-Pop der Fünfziger auf Materialschlachten der Zweitausender. In manchen Set-Designs bricht der Expressionismus der Dreißiger durch, und knallige Farben bestimmen jede Szene. Navot Papushado hat weniger eine Film geschaffen, als ein Gesamtkunstwerk. Und damit das Flair seine volle Wirkung entfalten kann, ist die Geschichte der Auftragskillerin Sam entsprechend einfach gehalten, was dem Film viel besser bekommt, als man annehmen möchte. Seit ihre Mutter sie vor fünfzehn Jahren in dem handlungsbestimmenden Diner verlassen hat, arbeitet Sam für das geheimnisvolle Konglomerat The Firm. Bis ihr bei einem Auftrag der Sohn vom Chef eines anderen Clans im Weg steht und sie ihn standesgemäß töten muss.
So einfach, und damit vorhersehbar sich die Handlung aufbaut, umso mehr profitiert der Freund von überdrehter Action und perfekt choreographierten Kameraeskapaden. Denn nichts in GUNPOWDER MILKSHAKE ist dem Zufall überlassen, oder ordnet sich einem Standard unter. Keiner der vorangegangenen Filme von Bildgestalter Michael Seresin, Cutter Nicolas De Toth und den schon erwähnten Designer Scheunemann hatte eine derart punktgenau konzeptionierte Dynamik. Jedes Bild ist exakt kadriert, jede Kamerabewegungen auf den maximalen optischen Effekt ausgerichtet. Und wenn man als Rezensent hemdsärmelig von ‚pulsierend‘ schreibt, dann trifft das hier auf den Schnitt zu, wie sonst bei keinem anderen Film. Oder besser gesagt, fast keinem anderen Film.
Das der Vater für die perfekt choreographierten Kampfszenen John Wick ist, kann man selbst unter fadenscheinigsten Argumenten nicht weg diskutieren. Nur nicht so düster gehalten, weil Mutter direkt aus AMERICAN GRAFFITI entsprungen ist, und die hat mit grell bunten Leuchtstoffschriften und akzentuierter Lichtgestaltung dem Film eine optische Marke verpasst. Aber die überzeichnete Künstlichkeit macht hier noch lange nicht Halt, weil es kommt, wie es nicht anders sein darf. Sam wird zur Zielscheibe von der Firma, weil sie dieses eine mal etwas vom eigentlichen Auftrag abgewichen ist. Und sowas macht fünfzehn Jahre gegenseitiges Vertrauen Film geschuldet zunichte.
Hilfe gibt es in der Bibliothek, wo Karen Gillan als jüngere Vertreterin des Action-Kinos, Unterstützung von den Urgesteinen des Unterhaltungsfilms Carla Gugino, Angela Bassett und Michelle Yeoh bekommt. Und die wenigstens werden überrascht sein, auch Lena Headey als Sams Mutter erscheint wieder auf dem bald von Blut getränkten Parkett. Die Damen unterhalten sich über die Auswahl von Waffen, als würden sie sich an Shakespears Sonette messen wollen. Schlag auf Schlag, im rhythmischen Gleichklang werden die Dialoge gespielt. Eine wahre Freude bereitet die Absurdität der ganzen Szenerie, wegen der Widersprüchlichkeit des Inhalts der Gespräche zu ihrer Vortragsweise.
Und im weiteren Verlauf geschieht, was ebenso unvermeidlich scheint. Es ist weniger enttäuscht, weil es anders herum wesentlich mehr überraschen würde. GUNPOWDER MILKSHAKE kann das Tempo nicht halten, und seine selbst auferlegten Ansprüche fallen immer weiter ab. Nichtsdestotrotz behält die verrückt durchgestylte Filmabstraktion von Papushado einen extrem hohen Unterhaltungswert. Aber ab der zweiten Hälfte hat der Film gezeigt, was es zu zeigen gibt, und hangelt sich daran bis zum Ende. Ausgerechnet Yeoh bekommt als Martial-Arts-Ikone am wenigsten zu tun, und Bassett macht unvermittelt den Eindruck, als verstünde sie die Ansprüche an ihre Rolle nicht mehr.
Der Showdown zeigt dann noch einmal, was anfänglich die Begeisterung so hoch trieb. In einer einzigen phänomenal konzipierten Slow-Motion-Einstellung werden die Fronten zwischen den Frauen in der Unterzahl und der überlegen scheinenden Gangsterbande geklärt. Dabei ist es vollkommen egal, ob der Genre-Fanatiker sofort nach der ikonischen Sequenz von OLD BOY schreit. Denn GUNPOWDER MILKSHAKE hat die viel knalligeren Farben, und den eingängigeren Soundtrack.
Darsteller: Karen Gillan, Cloe Coleman, Lena Headey, Carla Gugino, Angela Bassett, Michelle Yeoh, Paul Giamatti, Ed Birch u.a.
Regie: Navot Papushado
Drehbuch: Navot Papushado, Ehud Lavski
Kamera: Michael Seresin
Bildschnitt: Nicolas De Toth
Musik: Haim Frank Ilfman
Produktionsdesign: David Scheunemann
Deutschland – Frankreich – USA / 2021
114 Minuten