– Bundesstart 28.10.2021
Den Bühnenerfolg von DEAR EVAN HANSEN kann man sehr gut nachvollziehen, selbst wenn man die filmische Adaption sieht. Soziale Phobie ist eine sehr komplexe Krankheit. Auf wenige Darsteller begrenzt, lässt sich auf der Bühne vieles vereinfacht darstellen. Besonders wenn sich die komplizierten Gedankengänge des Betroffenen mit eingängigen Melodien und unverschnörkelten Liedtexten darstellen lassen. Ein in einen Song verpackter Text kann viel einfachder und effizienter ausdrücken, was in einer wirklichen Unterhaltung nicht möglich wäre. Ein von Sozialphobie gepeinigter Mensch wird sich einfach nicht so eloquent ausdrücken. Hinzu kommt bei einer Bühnendarstellung die bewusst geradliniger gehaltene Dramaturgie. Trotz Schnitt, Kameraeinstellungen und Musikuntermalung ist es beim Film viel komplizierter auf rein optischer Ebene die Gefühlswelt eines Betroffenen glaubhaft zu definieren.
Um seine Phobie besser in den Griff zu bekommen, wird Evan Hansen von seinem Therapeuten angehalten, einen Brief an sich selbst zu schreiben. In diesem Schreiben spricht er sich in der Anrede mit vollem Namen an, und unterzeichnet mit ‚Ich‘. Die Idee zu DEAR EVAN HANSEN, so sagt der Komponist Benj Pasek in einem Interview, rührt von einem wahren Vorfall in einer High School, wo sich ein unbeliebter Schüler das Leben nahm. Dieser Schüler heißt hier Connor, und in seiner ungestümen Art als Bully entwendet er von Evan eben jenen Brief. Nachdem sich Connor das Leben genommen hat, findet man diesen Brief und hält ihn fälschlicherweise für eine Abschiedsnotiz von Connor an Evan.
Was als Bühnenstück in Musical-Form hervorragend funktioniert, muss nicht zwangsläufig auch Potential für eine Verfilmung haben. Nicht wenn es so adaptiert wurde wie in diesem Fall. Über die Besetzung von Ben Platt hat man sich bereits im Vorfeld ausführlich das Maul zerrissen, weil er mit 28 Jahren die Rolle eines jugendlichen Schülers übernommen hatte. Doch man muss einfach anerkennen und akzeptieren, dass Platt die Rolle am Broadway etabliert und zu ihrem Erfolg gebracht hat. Ob es ohne ihn eine Filmadaption gegeben hätte bleibt deswegen fraglich. Ob es eine Verfilmung überhaupt gebraucht hätte, steht auf einem anderen Blatt.
Die Verwechslung, das man Evan wegen seines eigenen Briefes für Connors einzigen Freund hält, zwingt den sozial leicht inkompetenten Phobiker in eine unangenehme Position. Je länger das Missverständnis aufrecht gehalten wird, muss Evan sich mehr und mehr gegenüber seiner Umwelt öffnen. Das geschieht in weiten Teilen mit der Struktur und den Elementen einer High-School-Romanze, die stark überhöhte Gefühle in die Handlung wirft, um eine nicht sehr anspruchsvolle Geschichte zu kaschieren. Und genau da verlässt EVAN HANSEN die richtige Gewichtung. Denn die Geschichte muss gar nicht komplex sein, aber Selbstmord ist es, und ebenso Sozialphobie, welche zum Selbstmord führen kann.
Als Musical-Nummer ist lediglich ‚Sincerly Me‘ in einer Art inszeniert, dass sie eine ansprechende Atmosphäre erzeugt. Die ausgelassenen Choreographie, in der Ben Platt und Connor Darsteller Colton Ryan ihre falsche Freundschaft zelebrieren, spiegelt sehr gut die widersprüchlichen Empfindungen wieder, von dem wie das Leben sein könnte und was es tatsächlich bereit hält. Andere Lieder sind in erster Linie gedankliche Abrisse um eine Gefühlswelt vereinfacht zu umschreiben, die darstellerisch kaum auszuspielen wäre. Um ein realistisches Abbild der verletzlichen Figuren zu zeichnen, hätte der Film wesentlich tiefer in ihre Charaktere eintauchen müssen.
Es geht um weit mehr als nur vernachlässigte Krankheitsbilder, sondern welchen Einfluss Menschen wie Evan auf ihre Umwelt nehmen. Oder welche Auswirkungen Selbstmord in einer hauptsächlich jugendlichen Gemeinschaft haben kann. Und das geht meist weiter über den Kreis von engsten Freunden und der Familie hinaus. Hier tritt DEAR EVAN HANSEN viel zu seicht auf, und versucht sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes mit einem Plädoyer, welches wirklich nicht zu greifen versteht, weil es der Film von Beginn an viel zu aufdringlich vor sich her trägt.
Die gut gemeinte Absicht schlägt auch deswegen nicht an, weil jede Figur in der Geschichte genauso gezeichnet ist, dass sie den Anforderungen einer Idealvorstellung von Akzeptanz und Verständnis gerecht wird. Lediglich Julianne Moores kann in ihre Mutterrolle ehrliche Gefühle mit Hauch von leichter Verzweiflung einbringen, die man in so einer verantwortungsvollen Lebenslage erwarten würde. Dafür geht im Handlungsverlauf Amandla Stenbergs Figur der Alana vollkommen verloren. Sie verschwindet genau dann unerklärt aus dem Handlungsverlauf, als Evan bei allen anderen Schadensbegrenzung leisten muss. Zu Gunsten anderer Charaktere haben die Macher völlig ignoriert, dass Alana am stärksten in die Beziehung zu Evan investiert hat.
Was als Bühnenstück in Musical-Form scheinbar funktioniert, und einige bedeutende Auszeichnungen sprechen durchaus dafür, garantiert noch lange keine erfolgreiche Filmadaption. Im Fall von DEAR EVAN HANSEN muss man sogar sagen, dass der Film weder in künstlerischer noch inhaltlicher Umsetzung gelungen ist. Das kann man sich bei diesem Produktionsaufwand und eigentlich traumhaften Ensemble wirklich nicht vorstellen. Schade um die vertanen Möglichkeiten für seine eigentlich wichtigen Themen.
Darsteller: Ben Platt, Julianne Moore, Kaitlyn Dever, Amy Adams, Danny Pino, Amandla Stenberg, Nik Dodani und Colton Ryan u.a.
Regie: Stephen Chbosky
Drehbuch: Steven Levenson, Justin Paul, Benj Pasek
nach ihrem gleichnamigen Musical
Kamera: Brandon Trost
Bildschnitt: Anne McCabe
Musik: Dan Romer & Justin Paul sowie Benj Pasek
Produktionsdesign: Beth Mickle
USA / 2021
137 Minuten