Netflix – Oscar Doku
‚Crip Camp‘ ist natürlich keine feine Bezeichnung, und in unserer politischen Überkorrektheit heute überhaupt nicht mehr angebracht. Zum Schutz: Der spezielle Name für das eigentliche Sommer-Camp Jened, kommt von den Krüppeln selbst. Und anhand unverfälschter, stimmungsvoller Schwarzweißaufnahmen eines Kamerateams das von 1970 bis ’72 Vorort war, erkennt der Zuschauer sofort, dass ‚Crip Camp‘ nicht einfach nur liebevolle Bezeichnung ist. Für die Gäste dieses Ferienlagers, wurde es zu einer Lebenseinstellung. Es ist eine Zeit, wo zwischen Krieg und Menschenrechtsbewegung keine Zeit, und noch weniger Verständnis für Krüppel und Minderbemittelte war. Eine Zeit in der man Menschen mit Behinderung immer noch am liebsten wegsperrte, am besten noch in entsprechende Institutionen gab. Im Film gibt es einen kurzen bildlichen Abstecher zu Geraldo Riveras legendärer ‚Willowbrook‘-Dokumentation, einer Behinderteninstitution die fassungslos macht.
Auch wenn CRIP CAMP besondere Aufmerksamkeit erlangte, weil er exzessiv mit den Produzenten Barack und Michelle Obama beworben wurde, sollte man dennoch versuchen unbefangen zu bleiben. Dieses Marketing-Werkzeug hat Nicole Newnhams überhaupt nicht nötig. Co-Regisseur James LeBrecht hatte ihr von Camp Jened erzählt, der selbst an Spina bifida leidet. Eine gespaltene Wirbelsäule, mit der er auf die Welt kam, wodurch sich seine Beine nicht entwickelt haben, und er nie laufen konnte. LeBrecht waren nach seiner Geburt Ende der Fünfziger nur ein paar Wochen Lebenszeit prognostiziert worden. Noch heute arbeitet er in seinem Traumberuf als Toningenieur.
Den Eindruck zu beschreiben, den CRIP CAMP auf den unbedarften Zuschauer hat, ist kaum möglich. Die Atmosphäre ist immer locker, trotz der Thematik stets gelöst. Ein Gast im Lager erklärt der Kamera, dass sie eigentlich gerne nach Woodstock gegangen wäre. Nun ist sie hier, ‚UND ES IST WOODSTOCK!‘
Für jemanden, der selten direkt, oder näher mit Menschen mit Behinderung zu tun hat, mögen die Bilder des Ferienalltags einen seltsamen Eindruck haben. Es ist nicht wirklich so, wie man es erwartet hätte. So ehrlich muss man zu sich selbst sein. Die Aufseher sind Gitarre spielende Hippies. Den beeinträchtigten Kinder und Jugendlichen werden alle Freiheiten im Sinne ihrer Möglichkeiten und des Anstandes gewährt.
Für die meisten von den etwas anderen Menschen ist es das erste mal, dass sie gleich auf mehrere mit Behinderung treffen. Und für nicht wenige ist es das erste mal, dass sie überhaupt mit anderen Menschen zusammen kommen. Die Interviews oder Original-Sprachaufnahmen sind nicht untertitelt, selbst wenn manche der Protagonisten auf Grund ihrer Einschränkung extrem schwierig zu verstehen sind. Aber hier ist es nun einmal der Zuschauer, der sich anpassen und hineinwachsen muss.
Dennoch ist CRIP CAMP zu keiner Zeit sentimental oder rührselig. Filme in diesem Genre mit ähnlicher Thematik möchten gerne mit manipulativen Sequenzen erhöhte Emotionalität schaffen. Mit künstlich erzeugten Spannungsaufbau werden dann Momente erzeugt, die eine bestimmte Bindung zum Thema oder den Protagonisten herausfordern wollen. Obwohl mit dem Material das Nicole Newnham und James LeBrecht vorlag, unendlich viele solcher emotional beeinflussender Szenen möglich gewesen wären, umschiffen die Filmemacher dies immer wieder bewusst.
Doch das Crip Camp ist eigentlich erst der Anfang, der Einstieg in die größere, ganze Geschichte. LeBrecht hat als Protagonist in die Handlung eingeführt, aber so nach und nach gewichtet sich das Augenmerk auf Judy Heumann, die schon im Ferienlager Führungsqualitäten erkennen lässt. Als Begründerin der Rechtsaktivisten für Menschen mit Behinderung beginnt in jenem Sommer 1971 ein nervenaufreibender Weg, der erst drei Präsidenten und 19 Jahre später eine entscheidende Etappe im Kampf für die Gleichberechtigung von Beeinträchtigten schafft. Und was jedermann heutzutage als selbstverständlich erachtet, hätte ganz leicht nie passieren können.
Aber auch hier verliert der Film nicht seinen unprätentiösen Erzählton. Was ihn auf gewisse Weise noch viel spannender macht, weil man nie den Eindruck erhält beeinflusst zu werden. Die Geschichte selbst, inklusive der vielen dargebotenen Fakten, aber gerade die menschlichen Schicksale im Besonderen, lassen einen nicht mehr los. Geschichte wird tatsächlich selten so ehrlich und selbstredend, aber auch spannend und unterhaltsam erklärt.
Und mit Judy Heumann lernt man endlich einen Menschen kennen, der bisher weitgehend unbekannt war, aber so unglaublich viel geleistet hat und überaus wichtig war, und noch ist. Seit ihrer Kinderlähmung ist Judy auf den Rollstuhl angewiesen. Der eigentlich veraltete Begriff nennt sich eigentlich Poliomyelitis, die Traum-Behinderung für Menschen mit Einschränkungen. So erfahren wir es von den lachenden und scherzenden Kindern im Film selbst. Die Cerebralparese, Störungen im Nervensystem die meistens mit spastischen Mischformen einhergehen, die sind ganz unten in der Rangliste. Aber Polio, Polio ist ganz oben.
Mitwirkende: James Lebrecht, Judith Heumann, Lionel Je’Woodyard, Ann Cupolo Freeman, Neil Jabobson, Denise Sherer Jacobson, Jean Malafronte, Larry Allison, Joseph O’Conor u.v.a.
Regie & Drehbuch: James Lebrecht, Nicole Newnham
Dialog-Berater: David Radcliff
Kamera: Justin Schein
Bildschnitt: Andrew Gersh, Mary Lampson, Eileen Meyer
Musik: Bear McCreary
Grafikdesign: Scott Grossman
USA / 2020
106 Minuten