NETFLIX seit 30.04.2021
DVD – Blu-ray seit 2018
Als Regisseur, sieben Kinofilme, fünf davon Science Fiction in der gerne so bezeichneten High-Concept Kategorie. Drehbücher allesamt selbst verfasst. Und wenn auch nur als Autor, nicht vergessen Peter Weirs TRUMAN SHOW. Um die Harmonie nicht zu stören, lassen wir THE HOST einfach einmal auf Seite. Was Andrew Niccols auszeichnet, neben der Liebe zu seinem Stoff und der Detailversessenheit, ist sein Vermögen alle künstlerischen Bereiche in Einklang mit der Essenz der Geschichte zu bringen. Musik, Kostüm, Produktionsdesign, Bildgestaltung, und natürlich die Schauspieler. Man kann das auch als Symbiose bezeichnen. Womit Niccols eigentlich selbst eine Brücke zum Symbiose thematisierenden THE HOST – SEELEN schlagen würde. Doch von da ist es nur ein Film, aber noch fünf Jahre hin zu ANON. Ein Film, der kaum sein Konzept in wenigen Worten erklären lässt.
Für Ermittlungen braucht Detective Sal Frieland das Revier gar nicht zu verlassen, diesen monströsen Betonbau ohne Farbe und Stil, kalt und abweisend. Praktikabel muss er sein. So wie fast alles in dieser Gesellschaft. Schmucklose Fassaden, kaum Grün, wenig Verkehr, Menschen halten sich drinnen auf. Werbebanner und -tafeln gibt es auch nicht, so etwas wird direkt individuell auf das okulare Implantat gespielt. Wie auch alle anderen Informationen über jeden Menschen, dem man begegnet. Ist der Mann dort drüben verheiratet, hat die Frau da vorne eine Waffe dabei, wie alt sind denn die Personen die einem über den Weg laufen.
Alles was ein Mensch sieht wird aufgezeichnet, mit allen zusammenhängenden und erklärenden Daten. Selbst von den fremden Leuten die einem vor das Gesicht kommen, ob beabsichtigt oder unfreiwillig. Und es ist jederzeit wieder abrufbar. Als Detective braucht sich Sal nur in das Implantat eines Verdächtigen einlocken, und sich jede beliebige Situation zu jeder erdenklichen Zeit seines Gegenüber ansehen. Privatsphäre gibt es nicht, somit auch keinen Vorteil durch Lügen.
Obwohl ANON ins Genre eines modernen Thrillers fällt, gepaart mit gleichwertigen Portionen von Film Noir und klassischen Krimis, erzählt Niccols seine Geschichte fast schon gemächlich. Aber nie ermüdend oder langweilig, dafür sorgt schon die Prämisse. Die melancholisch anmutende Ruhe in der Inszenierung ist der Grund, warum man dieses überaus komplexe Konstrukt an Prämisse verhältnismäßig leicht nachvollziehen kann. Leichter jedenfalls, als man es in ausschweifenden Sätzen plausibel erklären könnte.
Jemand ist in der Stadt, der Menschen tötet. Jemand der unsichtbar ist, und aus dem vernetzten System ausgeklinkt. Zuerst scheinen die Morde wahllos, doch erstaunlicherweise finden Sal und sein Partner Charles Gattis eine erste Spur. Clive Owen als Sal ist dabei wie das Abbild des modernen, desillusionierten Draufgänger-Cops. Dem steht im perfekten Gleichgewicht ein stoischer Colm Feore als Gattis zur Seite, der unverkennbar den traditionellen Typus des gerechten Detektives längst vergangener Filmtage verkörpert. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, dass sie „endlich einmal einen richtigen Fall haben“.
Der Killer klinkt sich in das aufzeichnende System der Opfer, und lässt sie ihre eigene Ermordung aus dem Blickwinkel des Täters erleben. Der Mörder bleibt unerkannt, weil dieser die Fähigkeit besitzt, in Echtzeit die Aufzeichnungen jedes Menschen zu manipulieren. Damit löscht er auch jede Aufnahme, welche andere von ihm machen. Wie es sich für einen klassischen Film Noir gehört, wird das vermeintlich Böse einer Femme Fatale in der Gestalt von Amanda Seyfried zu Lasten gelegt. Und der Titelheld wird ihr verfallen.
Jetzt besteht das Ensemble, allen voran selbstredend das Dreigestirn, wirklich zu den Feinsten. Dennoch nutzt der Regisseur viel mehr ihre charismatische Präsenz, und lässt ihr Spiel sehr minimalistisch ausfallen. Es sind Einstellungsgrößen der Gesichter, Kadrierung der Bilder, und Schnittfolgen, mit denen Niccols Emotionen weckt und Stimmungen setzt. Amir Mokri nutzt für seine Bildgestaltung den ganzen Rahmen. Als Sinnbild ihrer Desillusionierung werden die Protagonisten in überproportionale Räume gesetzt. Verzerrte Schatten der Personen sind größer als ihre Darsteller, jagen sie, oder laufen ihnen davon.
Atmosphäre bestimmt den Handlungsverlauf, und Atmosphäre beherrscht Niccols seit seinem Erstling GATTACA. Die einzig wirkliche Action-Sequenz hier, ist eine phänomenal choreografierte Hetzjagd, die leicht an die auf zwei Zeitebenen spielende Autoverfolgung in Tony Scotts DEJA VU anknüpfen kann. Das es bei ANON später noch eine überraschende Wendung gibt, wird dabei schnell nebensächlich, weil es die Genre bedingte traditionelle Erzählform herausfordert, in weiten Teilen mit Versatzstücken zu arbeiten, welche erfüllt werden müssen. Dahingehend von uns auch erwartet werden.
Aber ANON ist kein Abspielen von ausgelutschten Klischees. Er hat eine anhaltende Grundspannung weil sich alle Komponenten in der Inszenierung und den künstlerischen Bereichen so wundervoll ergänzen, was eine unglaublich fesselnde Atmosphäre erzeugt. Doch einen wesentlichen Anteil hat auch das Konzept der permanenten Überwachung, welches fasziniert und gleichzeitig abstößt, weil es den Zuschauer immerzu fordert, die filmische Ausreizung mit dieser okularen und biosensorischen Technik richtig zu verstehen und einzuordnen.
Schaut man auf Andrew Niccols bisheriges Schaffen, dazu natürlich unbedingt TRUMAN SHOW, erkennt man schnell sein spezielles Talent, welches eine Spur neben eines allgemeinen künstlerischen Geschicks läuft. Er kann seine noch so sonderlichen Zukunfts- und Gesellschaftsvisionen glaubhaft darstellen, real und greifbar machen. Wo andere mit Effekten und ausufernden Erklärversuchen überzeugen wollen, setzt Niccols gegebene Realitäten ganz schlicht der obskuren Dystopie gegenüber. Und dann verknüpft er es, und lässt aber den illusionären Teil nie Oberhand gewinnen. Die Vision wird als selbstverständlich wahrgenommen.
Wir müssen uns eingestehen, dass wir vielleicht das Prinzip der okularen Implantate verstehen, aber bei weitem nicht ihre funktionelle Struktur. Aber es zeichnet den Film als anspruchsvolle Unterhaltung mit Tiefgang aus, wenn wir seiner komplexen Prämisse trotzdem folgen können, und tatsächlich verstehen was wir wissen müssen. Ohne den Bedarf es weitergehend zu hinterfragen. So etwas hat Andrew Niccol 2002 harsche Kritik eingebracht, als er mit S1M0NE künstlich erzeugte Darsteller thematisierte. Das war genau in dem Jahr als viele Cineasten ernsthaft vorschlugen Gollum aus LOTR: DIE ZWEI TÜRME für den Oscar als besten Nebendarsteller zu nominieren. Das war technisch natürlich noch etwas von S1M0NEs Grundgedanken entfernt, aber schon viel zu nah. Was mag da nur aus dem Brettspiel Monopoly werden, für dessen Adaption Andrew Niccols seit geraumer Zeit angekündigt ist.
Darsteller: Clive Owen, Colm Feore, Amanda Seyfried, Mark O’Brien, Sonya Walger, Joe Pingue, Iddo Goldberg u.a.
Drehbuch & Regie: Andrew Niccol
Kamera: Amir Mokri
Bildschnitt: Alex Rodríguez
Musik: Christophe Beck
Produktionsdesign: Philip Ivey
Kanada – Deutschland – Großbritannien – USA
2018
100 Minuten
Bildrechte: NETFLIX