AMMONITE

Ammonite - Copyright TOBIS Film– Bundesstart 04.11.2021

Das erste Bild in AMMONITE ist eine Putzfrau die mühsam mit der Hand den Boden schruppt und von einem Mann barsch zum Platz machen angefaucht wird. Das zweite Bild ist das des zu jener Zeit am besten erhaltenen Ichthyosaurus-Fossils in England, gefunden von Mary Anning an der Küste von Dorset. Das Schild am Fossil weist sie als Finderin aus. Mit einem verächtlichen Raunzen wird das Schild abgerissen und ersetzt, mit dem Hinweis auf das British Museum, welches diesen Fund großzügig zur Ansicht bereitstellt. Filmemacher Francis Lee zeichnet aber kein verachtenswertes Männerbild in seinem Film. Es ist eher eine nüchterne Zustandsbeschreibung, die aber Kameramann Stéphane Fontaine genau so abbildet. Es ist 1840, und das Leben im Küstenstädtchen Lyme Regis ist für die beziehungslose Mary Anning nicht verklärt und romantisch, sondern rauh und oftmals trostlos.

Die reale Mary Anning erlangte bereits in der Mitte ihrer kurzen Lebenszeit von 48 Jahren ein hohes Ansehen. Als autoditakte Paläontologin suchte und fand sie die bedeutendsten Fossilen in Großbritannien. Aber, sie war eben eine Frau. Und während über weit unbedeutendere Männer ganz Bücher geschrieben wurden, ist über ihre Fossilfunde hinaus ganz wenig von Mary Anning bekannt. Anlass für Francis Lee eine ‚was wäre wenn‘-Fiktion zu ersinnen, die aber nicht sensationslüstern oder provokant sein soll. Vielmehr stellt er die Frage, wie sehr sich ein Mensch selbst genug sein kann. Dabei ist er aber keineswegs belehrend oder künstlerisch überheblich, und er will auch kein künstlich überhöhtes Psychogram zeichnen.

Der wohlhabende Roderick Murchison steht eines Tage in Marys kleinem Laden wo sie kleine Fossilen und Souvenirs verkauft. Der Geologe möchte eine geführte Tour, und sie bei ihrer Arbeit beobachten. Es ist die überaus großzügige Bezahlung, welche die eigentlich zurückgezogene Mary zustimmen lässt. Wissend um ihre finanziellen Defizite, kommt Murchison später noch einmal auf sie zu. Eine Auslandreise zwingt ihn, seine schwer depressive Frau Charlotte zurück zu lassen, und er möchte das Mary sich in dieser Zeit um sie kümmert.

In der Inszenierung verzichtet Francis Lee auf Musik oder dialoglastige Erklärungen. Er lässt seine Darsteller agieren, und Fontaine liefert atmosphärische Bilder die farb- und trostlos die Stimmung der Figuren wiederspiegeln. Kate Winslet und Saoirse Ronan sind zwei der bedeutendsten Künstlerinnen im darstellerischen Gewerbe, und somit hat Regisseur Lee zwei der entscheidenden Faktoren einer gelungen Produktion gesichert. Sie sind einem extrem breiten Publikumskreis bekannt, und darüber hinaus kann man sich auf ihre überzeugenden Leistungen verlassen, unabhängig von den inszenatorischen Geschicken.

Ammonite 1 - Copyright TOBIS Film

Aber was Geschick angeht, beweist Francis Lee das absolute Gespür für den richtigen Ton und einnehmende Stimmung. Nach zwischenmenschlichen Startschwierigkeiten, können sich die Frauen langsam zueinander öffnen. Charlotte bricht immer weiter aus dem erdrückenden Joch der Depression, während Mary es schafft behutsam ihren schützenden Mantel aus Unnahbarkeit und Misstrauen abzulegen. Die unterschiedlichen Frauen eint die Sehnsucht nach Verständnis, Vertrauen und der Möglichkeit endlich aus ihrem Korsett der an sie gerichteten Verantwortung auszubrechen.

Die Szene in der Mary für Charlotte Medikament bei ihrer Bekannten Elizabeth abholen möchte, wird unvermittelt von Sonne überstrahlt, die Farben werden kräftig. Zuerst verwirrt der Bruch in dem bisherigen optischen Design, weil danach das trostlose Ambiente wiederkehrt. Aber nicht für lange. Je mehr sich Charlotte und Mary annähern, umso intensiver wird auch die Farbgebung, bestimmen auch von Sonne durchflutete Bilder die Settings. Im Nachhinein entpuppt es sich als manipulatives Stilmittel. Im Fluss der ruhigen Erzählung allerdings, gelingt damit eine starke Bindung an die Charaktere.

Es gibt Sequenzen, da gehen Winslet und Ronan weit über das hinaus was sie bisher an Körperlichkeit in Filmen gegeben haben. Doch nichts davon macht den Eindruck forciert zu sein. Die Ruhe in der Inszenierung und die Glaubwürdigkeit der beiden Frauen generieren eine nachvollziehbare Natürlichkeit, und es nimmt jede Anrüchigkeit aus der Beziehung. Eine explizite Liebesszene ist daher auch keine Kulmination dieser Beziehung, sondern eine Bestätigung ihrer Selbstbestimmung.

Es gibt keine dramaturgischen Elemente im Film welche diese Affäre in Frage stellen könnten, oder darüber richten würden. Lee hat alle Möglichkeiten in seiner Geschichte eliminiert, die in anderen Filmen aus den beiden Frauen einen Skandal generiert hätten. Schlichtweg, weil es überhaupt nicht darum geht. Letztendlich geht es Mary wie Charlotte nur um sich selbst. Doch sie missbrauchen sich nicht, aber sie brauchen sich. Diese Fiktion auf eine reale Person zu übertragen wirft natürlich im ersten Moment Fragen auf. Doch die elementare Ausrichtung in der Erzählung, lässt den Film viel weniger spekulativ wirken. Denn er unterstreicht das Bekannte im Wesen der realen Mary Anning, und da ging es um Leidenschaft und Selbstbestimmung.

AMMONITE ist ein Film, der auch vollkommen ohne Dialoge auskommen würde, und trotzdem in seiner ganzen Intensität verständlich bliebe. Es gibt vielleicht gerade einmal fünf Dialogsätze, die zum Verständnis benötigt werden. Selbst zwei wichtige Briefe werden nicht verlesen, sondern deren Inhalt durch die Reaktionen der Darstellerinnen vermittelt. Natürlich ist es letztendlich Francis Lee, der dies mit einem Gespür für Timing und Tempo transportiert, das unerlässlich ist, wenn eine so leidenschaftliche Erzählung funktionieren soll. Und sich dann auf Kate Winslet und Saoirse Ronan einfach zu verlassen, ist wie der Fund des ersten Ichthyosaurus: Einzigartig und bahnbrechend.

Ammonite 2 - Copyright TOBIS Film

 

Darsteller: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, James McArdle, Alec Scareanu, Fiona Shaw u.a.
Regie & Drehbuch: Francis Lee
Kamera: Stéphane Fontaine
Bildschnitt: Chris Wyatt
Musik: Volker Bertelmann, Dustin O’Halloran
Produktionsdesign: Sarah Finlay
Großbritannien – Australien – USA / 2020
120 Minuten

Bildrechte: TOBIS Film
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