WENDY – Bundesstart 20.08.2020
Schon die abenteuerlichen Dreharbeiten mussten das Flair von kindlicher Unbeschwertheit und restriktionsloser Fantasterei versprüht haben. Frei von Zwängen, tun was man möchte, keine elterlichen Hoheiten. Allein auf einer Insel mit einem aktiven Vulkan, so abgeschieden, dass es keine Infrastruktur gab. Ein Drehort so abgelegen, unwegsam und gefährlich, dass selbst die finanzierenden Produzenten keinen Blick auf das Wachstum ihrer Investition werfen wollten. Sozusagen die Mütter, deren filmenden Racker auf Nimmerland allein auf sich gestellt sein wollten. Eine Allegorie für die Allegorie selbst. Wer noch nicht mitbekommen haben sollte, das WENDY eine Neuinterpretation von J.M. Barries ‚Peter Pan‘ ist, hat in letzter Zeit nicht sonderlich gut aufgepasst. Na, Kinder haben das eben manchmal an sich. Aber nach dem phänomenal von Zuschauern und Kritikern aufgenommenen und mit Auszeichnungen überhäuften BEASTS OF THE SOUTHERN WILD, hätte man Filmautor Benh Zeitlins nachfolgendes Werk schon besser im Auge haben können.
WENDY kam, und ging. Eines der vielen Opfer einer weltweiten Ausnahmesituation. Der eingeschränkte U.S.A.-Start in den Kinos Ende Februar konnte da nicht viel Aufmerksamkeit generieren, und wie zu erwarten war der folgenden Auswertung im Internet kaum Erfolg beschienen. Dabei dürfte Zeitlins Gedankenspiel gerade für Freunde des Autorenfilms eine willkommene Herausforderung sein. Oftmals ist von Vergleichen mit Terrence Malick die Rede. Nicht nur wegen der zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Filmen. Auch bei Malick dominieren immer wieder scheinbar losgelöste Bilder, wo die Kamera den Protagonisten folgt, schwebend und subjektiv. Bei WENDY ein zentrales Thema, wo kindliche Unbekümmertheit und konventionslose Lebensfreude suggeriert wird. Doch viel zu lange verweilt Zeitlin auf den innerlich befreiten Kindern, auf einer Insel die nur schwer als Ersatz für Nimmerland wahrzunehmen ist. Sie toben, lachen und treiben Unsinn, in einem Umfeld welches sich kaum von der Welt unterscheidet aus der sie ausgebrochen wollten.
Zusammen mit Schwester Eliza hat Benh Zeitlin die Geschichte ersonnen und das Märchen um den Jungen der niemals alt werden wollte neu interpretiert. Er folgt dabei keineswegs den filmischen Spuren von Terrence Malick, sondern ist stark darauf bedacht konzeptionell und inszenatorisch seinem eigenen Film zu wiederholen. Aber auch wenn sich BEASTS OF THE SOUTHERN WILD thematisch mit WENDY vergleichen lässt, ist ihre Grundlage eine andere. Wenngleich beider Hauptfiguren aus kargen, ärmlichen Verhältnissen kommen. Dabei träumen die Darling Kinder Wendy, James und Douglas nicht von einem besseren Leben, sondern davon niemals erwachsen zu werden. Gleich zu Anfang gibt es auch eine der stärksten, und emotionalsten Szenen. Als Betreiberin eines Diners im Nirgendwo von Louisiana, erklärt Mutter Angie ihren Kindern, dass sich Träume mit dem Erwachsenwerden auch ändern. Das ist sehr natürlich und ohne übertriebene Sentimentalität gespielt. Es ist ein essenzieller Moment, von dem es im weiteren Verlauf keinen mehr in dieser Ehrlichkeit geben wird.
Natürlich zeigen die Kinder kein Verständnis für die Notwendigkeit des Erwachsenwerdens. Auf einem scheinbar gewöhnlichen Güterzug folgen sie dem charismatischen Peter, und landen später auf einer Insel wo kein Kind altern muss, wenn es nur fest daran glaubt. Kamerafrau Sturla Brandth Grøvlen fand die Idee faszinierend, den Film komplett auf 16mm zu drehen. Was allerdings in erster Linie aus logistischen Gründen geschah, weil die Drehorte den Transport von größerem Film-Equipment nicht zuließen. Mit dem Filmmaterial behält der Film auch eine bodenständigere Atmosphäre. Das Bild ist klar, aber geringfügig grobkörniger, die Farben sind nicht so kräftig. Während der ersten Sequenzen auf der Insel gewinnt das Material auffallend an Sättigung, was allerdings im weiteren Handlungsverlauf auch wieder zunehmend verblasst. Denn Wendy beginnt daran zu zweifeln, dass die ewige Kindheit eine erfüllende Alternative für wirklich gelebtes Leben sein kann. Das nüchtern karge Bild ist dabei nicht Synonym für eine empfundene Trostlosigkeit, sondern die verspielt kräftigen Farben entpuppen sich als naives Trugbild.
Sicher ist, dass diese Peter-Pan-Variante kein Film für Kinder ist, auf die Jüngsten sogar recht irritierend und abschrecken wirken würde. Doch auch das erwachsene Zielpublikum wird so einige Schwierigkeiten mit Zeitlins Umsetzung der Geschichte haben. Vollgestopft mit Metaphern und Analogien, welche leicht zu durchschauen sind, bleiben die eigentlichen Aussagen doch zu schwach und wage. Dazu wälzt der Regisseur viele Szenen zu weit aus, findet manchmal keinen Abschluss. Wo er im Verlauf der Handlung immer wieder eine konkrete Orientierung vermissen lässt, wird die Geschichte am Ende in ihrem Kern überraschend schlicht. Letztendlich fehlt WENDY dieser überragend poetische Moment, indem alles kulminiert. Gut gemeint sind die abschließenden Worte der erwachsenen Wendy, die zu erklärenden Super 8 Filmschnipsel ihr Fazit beschließt. Nur, dass dies durch einen nicht uninteressanten Prolog wieder aufgehoben wird. Die vermeintliche Moral der Geschichte verkehrt sich ins Gegenteil.
Man kann Benh Zeitlin in seiner Schwester Eliza nicht absprechen, sehr gute Ideen und Aspekte ausgearbeitet zu haben. Die spannungsreichsten Momente entwickeln sich aber dadurch, dass man versucht den Handlungsverlauf vorweg zu erahnen, wenn man ungefähr mit der Vorlage vertraut ist. Leider hat der Regisseur mit der Auswahl seines ausschließlich aus Amateuren bestehenden Ensembles weniger Glück gehabt, wie acht Jahre zuvor bei BEASTS. Devin France als Wendy und den Naquin Brüdern Gage und Gavin darf man großes Talent und Gespür für den Augenblick bescheinigen. Allerdings fallen bei Szenen mit den erwachsenen Statisten immer wieder starke Defizite an Disziplin und Erfahrung auf, die der Regisseur nicht kaschieren konnte, und all zu offen sichtbar werden. Das härteste Los hat Yashua Mack als Peter getroffen, der durchweg überheblich und dadurch extrem unsympathisch wirkt. Ein Umstand der aber in erster Linie der Charakterzeichnung geschuldet ist, und mit einer versierteren Schauspielführung Ausgleich gefunden hätte.
Benh Zeitlin ist der Anschluss an seinen Erstling nicht wirklich gelungen. Vielleicht weil er sich in der Umsetzung von WENDY zu krampfhaft an die erfolgreiche Formel des Vorgängers geklammert hat. Etwas mehr Aufmerksamkeit hätte man dem Film dennoch gegönnt. Aber letztendlich ist auch der Deutschlandstart sehr ungünstig ausgefallen. Wo sich die gesamte Kinobranche und deren Zuschauer auf Christopher Nolan fixiert hat, verliert selbst ein Arthousefilm par excellence sehr viel seiner Attraktion.
Darsteller: Devin France, Yashua Mack, Gage Naquin, Gavin Naquin, Ahmas Cage, Krzystof Meyn u.a.
Regie: Benh Zeitlin
Drehbuch: Benh Zeitlin, Eliza Zeitlin
Kamera: Sturla Brandth Grøvlen
Bildschnitt: Scott Cummings, Affonso Gonçalves
Musik: Dan Romer, Benh Zeitlin
Produktionsdesign: Eliza Zeitlin
USA / 2020
111 Minuten