Netflix – 10.12.2020
THE PROM
Ja, man sollte eine grundsätzliche Akzeptanz für Musicals haben, wenn einem THE PROM gefallen soll. Einfach ist es nicht, wenn sich bei jeder noch so geringen Möglichkeit ein Song auftut, und bei jeder Gelegenheit Massenchoreografie die Szenerie beherrscht. Keegan-Michael Key besingt die Faszination für Musicals auch in einer Nummer. Sehr selbstkritisch, ein bisschen boshaft, und vollkommen ironisch. Hier werden Probleme weg gesungen, und es macht auch nichts aus, das man grundlos in Tanz ausbricht. Ja, man sollte Gefallen an Musicals haben. Doch THE PROM hat durchaus auch das Zeug, kritischere Zeugen nicht zu langweilen.
Ohne es bewerben zu müssen, outet sich THE PROM mit unverhohlenem Enthusiasmus als LGBTQ-Musical. Mit keinerlei Rücksicht auf…, tja, alles. Wie geschaffen für Ryan Murphy, der mit seiner Homosexualität und den Umgang damit in seinen Arbeiten selten für Toleranz oder Anerkennung warb, sondern sie als selbstverständlich und meist unkommentiert einfließen ließ.
Für den Massenbetrieb am Broadway dürfte THE PROM eines der progressivsten und auffälligsten Musicals in dieser Sparte sein. Im puritanischen und erzkonservativen Indiana möchte Emma Nolan nicht von einem Jungen auf den High-School-Abschlussball geführt werden, sondern von ihrer der Öffentlichkeit noch unbekannten Freundin Alyssa. Schockschwerenot, weil das Gesetz eine Teilnahmeverbot allein für Emma verbietet, wird kurzerhand der gesamte Abschlussball abgesagt.
Das kommt vier abgelegten Broadway-Darstellern sehr gelegen, ein lautstarkes Engagement zugunsten Emmas könnte gute Publicity bringen. Eine abgehalfterte Diva in allerbesten Jahren. Ein selbstüberschätzter Darsteller mit viel Ambitionen, aber ohne Talent. Der ehemalige Kinderstar, der wegen seines vergangenen Ruhmes keine Rolle bekommt. Und das unterschätzte Blondchen, welches sich nicht aus der hinteren Reihe hervor tanzen konnte. Da wird es laut und turbulent in Edgewater, Indiana.
Eines darf man in diesen vollgepackten 130 Minuten nicht erwarten, und das ist Tiefgang. Nicht einmal einen sensiblen Umgang mit dem Thema, oder dem Coming-Out zweier minderjähriger Mädchen. Probleme gibt es nur, damit sie mit einem Lied vom Tisch gesungen werden können. Da werden Textzeilen hinaus geschleudert, die zu keiner Zeit für eine Interpretation Freiraum lassen. Zoten werden gerissen, und nichts bleibt heilig, nicht einmal das Thema, welches sich das Musical vordergründig auf die Regenbogenfahne geschrieben hat.
Und zu allem gibt es einen Song, und zu jedem Song gibt es ein massives Aufgebot an Tänzern. Matthew Libatiques Kamera wird selbst zum furiosen Derwisch. Aber niemals verliert er die grandiosen Choreographien aus dem Bildfenster. Egal wie schnell die Tanznummern geschnitten sind, man sieht ständig die Tänzer, aber eben auch die renommierten Hollywood-Namen, in ganzer Größe. Die perfekten Tanznummern sind kein Werk von geschickter Schnitttechnik, sondern präzise einstudierte Kunststücke.
Über die einzelnen Songs lässt sich sicherlich streiten. Vielleicht ‚Tonight Belongs To You‘, wo klar gemacht wird, dass das Leben keine Kleider-Anprobe ist, und ‚Love Thy Neighbor‘, das die doppelzüngige Bigotterie anprangert, könnten als eigenständige Lieder haften bleiben. Die anderen Nummern orientieren sich in Stil und den Arrangements schon stark am herkömmlichen Broadway-Sound. Lediglich die Texte sind wesentlich offensiver und ironischer, mit Hang zum bitterbösen. Und Selbstreflexion ist dabei ein unablässiger Begleiter.
Selten hat ein Film eine derart ungebremste Energie verströmt. Selbst wer sich bisher erfolgreich gegen Broadway-Musical gewehrt hat, kommt nicht umhin, sich von THE PROMs unglaublicher Vitalität beeindrucken zu lassen. Ryan Murphy hätte ruhige Momente mehr auskosten können, die emotionale Tiefe weiter ausbauen. Er hätte auch viel mehr reflektierende Dialoge bemühen können. Hätte, hätte, hätte.
Hat Murphy aber nicht, sondern er vertraut voll und ganz den intelligenten Liedtexten, die Rundumschläge in alle Richtungen von politischer, soziologischer und kultureller Gesinnung verteilen. Und da macht es dann auch nichts aus, wie Keegan-Michael Key in ‚We Look To You‘ singt, wenn einmal unmotiviert in Tanz ausgebrochen wird.
Trotzdem sollte man eine grundsätzliche Akzeptanz für Musicals haben, wenn einem THE PROM gefallen soll. Es ist eben ein sehr spezielles Genre, auch wenn der künstlerische und technische Produktionsaufwand so enorm ist wie hier. Und so extravagant phänomenal ausgekostet wird.
Darsteller: Meryl Streep, James Corden, Nicole Kidman, Keegan.Michael Key, Jo Ellen Pellman, Ariana DeBose, Andrew Rannells, Kevin Chamberlin u.a.
Regie: Ryan Murphy
Drehbuch: Bob Martin, Chad Beguelin
Kamera: Matthew Libatique
Bildschnitt: Peggy Tachdjian, Danielle Wang
Musik: David Klotz, Matthew Sklar
Produktionsdesign: Jamie Walker McCall
USA / 2010
130 Minuten