THE TRIAL OF THE CHICAGO 7
– bei Netflix
Man möchte meinen, in Anbetracht der sechs Monate welche dem Start von THE TRIAL OF THE CHICAGO 7 vorausgingen, dass emsige, Eichhörnchen ähnliche Hollywood Politologen die Schublade aufrissen und lautstark skandierten: „Ich hab da schon mal was vorbereitet!“ Nicht verwunderlich das Autor Aaron Sorkin, welcher die Geschichte bereits 2007 im Auftrag von Steven Spielberg schrieb, im Presseheft kommentiert: „Das Skript wurde nicht geändert, um die Zeiten widerzuspiegeln. Die Zeiten haben sich so geändert, um das Skript wieder zu spiegeln.“ Und das trifft es ziemlich genau. Der Film fällt genau in eine Zeit, wo er aktueller nicht sein könnte. Das der zeitliche Zufall soweit kommen konnte, ist Spielberg zu verdanken, der die Regie dann doch abgab. Als Sorkin mit MOLLY’S GAME letztendlich 2017 auch noch sein Regiedebüt gab, hatte Spielberg seinen Nachfolger gefunden. Der Film hatte seinen Macher gefunden, und unsere Zeit in Anbetracht von weltweiten Solidaritätsbekundungen und Pandemie-Ungehorsam, einen fast schon passenden Film.
Was Aaron Sorkin entlang seiner Karriere ausgezeichnet hat, ist sein eher verspielter Blick auf die komplizierten, oft verworrenen Zusammenhänge von Ereignissen, die einer realen Geschichte folgen, oder einen reellen Hintergrund haben. Seine Obduktionen von politischen Zusammenhängen bei 155 Episoden WEST WING, oder kaum greifbaren Persönlichkeiten wie in SOCIAL NETWORK und JOBS, sind beste Visitenkarten
für ein paradoxerweise weniger bekanntes Detail aus den Nachwirkungen des Sommers 1968 in Chicago.
Über die U.S amerikanischen Staatsgrenzen hinaus sind die Krawalle während des Kongresses der Demokratischen Partei in Chicago 1968 bekannt. Aber schon der Begriff von den „Chicago 7“ verkümmert dann eher zu einem nationalen Ding, wobei selbst da nur wenige tatsächlich eine Geschichte dahinter kennen würden. Letztendlich sind ja auch die Obrigkeiten nicht besonders stolz auf den politisch bedingten Missbrauch von Exekutive und Judikative. Für das offen linksliberale Hollywood ein langjähriges Versäumnis, wie Mister Spielberg fand.
Wie der Titel verrät, konzentriert sich Sorkins Abriss der Ereignisse auf die Verhandlung der acht Anführer unterschiedlicher aktivistischer Polit-Gruppen (Bobby Seale von den Black Panther wird später aus dem Prozess ausgeklammert). Die Anklagen lauteten unter anderem auf Verschwörung und Aufwiegelung, die angeblich zu den Ausschreitungen geführt haben sollen. Ziel war es eigentlich gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, und dies den demokratischen Delegierten vor Augen zu führen, sollten diese in naher Zukunft die Regierung stellen.
Die technische Umsetzung des Films kann man nur als genial beschreiben. Leider wieder ein Opfer, dem eine verdiente Kinoauswertung verwehrt bleibt. Obwohl er nur mit fast schon lächerlichen 35 Millionen Dollar realisiert wurde, aber die kreative Zusammenarbeit von Kameramann Phedon Papamichael und dem Team um Produktionsdesigner Shane Valentino hat hier ein cineastisches Leuchtfeuer geschaffen. Das ein Film ohne verschwenderisches Budget richtig opulent und aufwendig aussehen kann, implizieren sie mit dem richtigen Gespür für die Settings.
Die Szenen von den Krawallen, die in Rückblenden erzählt werden, sind schon einmal aus diesem Grund nicht notwendigerweise ausladend gehalten. Zudem werden die Sequenzen immer aus der Perspektive der erzählenden Person gezeigt, was Blickfeld und Massenaufnahmen einschränkt. Dennoch vermitteln sie durch rasche Einstellungsänderungen und fließende Schnittfolgen die Größe und massive Präsenz von Polizei und Demonstranten ohne eine Spur von filmtechnischer Trickserei. Sehr effektiv und durchaus auch suggestiv, sind Einstellungen, in denen Motive von historischen Photografien nachgestellt sind.
Alan Baumgarten hat im Schneideraum allerdings auch über die Massenszenen hinaus einen essenziellen Beitrag für den Film geleistet, der das übliche Maß von Tempo und optischen Fluss sprengt. Baumgarten unterstreicht mit raschen Close-up gewisse Reaktionen, und hebt Bedeutungen von Äußerungen mit Gegenschnitten hervor. Es ist ohnehin die ganz große Stärke von TRIAL OF CHICAGO 7, wie gleichbedeutend jeder Charakter inszeniert ist. Wo Aktionen und Reaktionen immer gleichwertig zum tragen kommen, und die Ereignisse in ihrer Gesamtheit unabhängig von Person oder politischer Gesinnung beleuchtet werden.
Aaron Sorkin hat nicht umsonst seinen tadellosen Ruf als verständlicher Erzähler komplexer Geschichten. Nicht das hier Verständlichkeit mit Simplifizierung verwechselt wird. Ganz im Gegenteil. Mit dem Begreifen geht auch das Verständnis für die Vielschichtig- und Doppeldeutigkeiten einher, welche die Struktur der Vorkommnisse bilden. Immerhin umspannen die Geschehnisse von den ersten Ermittlungen bis zur Urteilsverkündung fast 18 Monate. Dies hauptsächlich im Gerichtssaal zu erörtern und vermitteln, ist nicht nur Kern des Films, sondern was den Film definiert.
Es hat schon etwas eigenartig selbstverständliches, dass Sacha Baron Cohen, Eddie Redmayne, Mark Rylance, aber allen weit voraus Frank Langella im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Doch die Regie gibt allen Protagonisten eine gleichwertige Darstellungsgewichtung, noch dazu, dass jede Figur ihr ganz eigenes und spezielles Persönlichkeitsprofil ausleben darf. Dadurch gewinnt der Film auch eine enorme Energie, weil jeder Charakter tatsächlich immer etwas substanzielles beiträgt. Selbst Füllsätze oder unterhaltsame Kalauer sind von Bedeutung.
Zwei Stunden Geschichts- und Gerichtsunterricht, die locker und unterhaltsam inszeniert sind, aber von ständiger Auseinandersetzung über geschichtliche Relevanz und politischer Bewertung der Ereignisse umhüllt werden. Aber gerade wegen seiner leichtfüßigen Art, dominiert von dem durchweg bestechenden Ensemble, geht dieses Kapitel uramerikanischer Geschichte immer wieder unter Haut.
Aaron Sorkin kam nicht umhin, einen wesentlich Fakt unbehandelt zu lassen. Außerhalb des Films zeichnete die öffentliche Wahrnehmung seinerzeit ein anderes Bild der Begebenheiten. Politwissenschaftler führen deshalb die Wiederwahl der republikanischen Partei auf die Ausschreitungen während des demokratischen Kongresses zurück. Damit ging eine Ausweitung des Vietnamkrieges einher, gegen den man eigentlich demonstrieren wollte.
Darsteller: Eddie Redmayne, Sacha Baron Cohen, Alex Sharp, Jeremy Strong, John Carroll Lynch, Noah Robbins, Daniel Flaherty, Yahya Abdul-Mateen II
mit Mark Rylance, Joseph Gordon-Levitt, Ben Shenkman, Frank Langella, Michael Keaton, Kelvin Harrison Jr. u.a.
Regie & Drehbuch: Aaron Sorkin
Kamera: Phedon Papamichael
Bildschnitt: Alan Baumgarten
Musik: Daniel Pemberton
Produktionsdesign: Shane Valentino
Großbritannien-Indien-USA / 2020
129 Minuten