RADIOACTIVE – Bundesstart 16.07.2020
Das Marie Curie überhaupt 67 Jahre alt wurde, grenzt aus heutiger Sicht schon an ein Wunder. Ein Behältnis mit leicht grünlich leuchtenden Radium hatte sie immer entweder einstecken, oder auf ihrem Nachttisch. Auch wenn Madame Curie den Begriff der Radioaktivität prägte, waren die Wirkungen des strahlenden Materials ebenso wenig erforscht wie überhaupt bekannt. Selbst nach ihrem Tod, war die Ärzteschaft uneins, ob ihre Knochenmarkerkrankung auf den ungeschützten Umgang mit Radon und Radium zurückzuführen war. Über hundert Jahre später müssen Marie Curies Aufzeichnung noch immer in Bleibehältern aufbewahrt, und ausschließlich mit Schutzkleidung eingesehen werden. Marie Sklodowska-Curie war nicht nur eine Pionierin in den Bereichen Physik und Chemie. Sondern auch Wegbereiterin für Frauen in sehr vielen Männerdomänen. Von letzterem, nutzt Marjane Satrapis Annäherung an einen Mythos, wenig Stoff für die filmische Dramatisierung.
In kurzen, heftigen Wortgefechten, meist zwischen Marie Sklodowska und Pierre Curie, wird dem Zuschauer sehr anschaulich immer wieder einmal die jeweils aktuelle Forschungsarbeit vermittelt. Gerade so viel, dass man als Außenstehender diverse Stufen und deren Ziel der Arbeit sehr gut folgen kann. Aber auch darauf achtend, niemanden mit fachspezifischen Details zu überfordern. Das hat durchaus etwas Verbindendes mit der Figur und ihrer fast schon tragischen Obsession. Da sich diese Biografie ohnehin verstärkt auf Curies Arbeiten, Ergebnisse und der nachhaltigen Folgen konzentriert, heben so manch erklärende fachliche Annäherungen die Distanz zwischen Zuschauer und Hauptfigur weitgehend auf. Das großartige an Satrapis Schauspielführung, ist die formidable Natürlichkeit, mit der Erklärungen vermittelt werden, ohne tatsächlich als gönnerhafte Darreichung wahrgenommen zu werden. Darin liegt aber auch der einnehmende Reiz an dem Film, wie er die leidenschaftlichen Gefühle zwischen Marie und Pierre aufzeigt, aber genau dies nutzt, um beider Passion für Physik und Chemie zu verdeutlichen.
An manchen Stellen wirken die behandelten Episoden aus dem Leben von Madame etwas willkürlich, und nicht kohärent. So wird ihre erste Schwangerschaft und die Geburt von Irène Curie in gerade 20 Sekunden filmisch abgefeiert. Obwohl Tochter Irène nach Ehemann Pierre den größten Einfluss auf das Leben von Marie hatte, ihr zudem in der Wissenschaft nacheiferte, und später ebenso den Nobelpreis in Chemie verliehen bekam. Und auch die Tragweite der Affäre mit dem etwas jüngeren Kollegen Paul Langevin kommt nicht in vollem Umfang zur Geltung. Die missbilligende Meinung und der offene Protest der Öffentlichkeit über diese Beziehung, geht hauptsächlich mit der Sorge des Volkes vor Radium einher, wo die Angst vor den gesundheitlichen Auswirkungen nur durch Vermutungen geschürt wird.
Auch wenn Rosamund Pike und Sam Riley ohnehin die meiste Leinwandzeit bestreiten, und andere Figuren weniger in ihrer Tiefe betrachtet werden, kommen jene Menschen in deren Leben merklich zu kurz. Was aber nicht zwingend von Nachteil ist, da der Film mit einer Länge von 104 Minuten für eine Biografie über eine Person dieser Größenordnung erstaunlich kurz ist. Scheinbar in voller künstlerischer Absicht, da Filme dieser Gattung gerne zu epischen Ausuferungen neigen, die beim Zuschauer selten mit befriedigtem Wohlwollen aufgenommen werden, eher von strapazierten Aufnahmefähigkeit geprägt sind. Rosamund Pike allein ist schon überwältigend, immer glaubhaft stark und nachvollziehbar getrieben. Ihr ganze Gestik und Mimik hat sie darauf ausgelegt, ohne allerdings auf die eine oder andere Seite zu übertreiben, oder zurückhaltend zu sein. Wie sich die wirkliche Marie gegenüber ihrer letztendlich einzig wahren Liebe Pierre gefühlt haben könnte, lässt Pike den Zuschauer sehr intensiv mitfühlen. Hier kommt eine unterschwellige Unsicherheit und Verletzlichkeit hinzu, die den Menschen und die Wissenschaftlerin in ihrer Verschmelzung zu einer sehr komplexen Figur macht.
In der nur manchmal zu wenig Lebensabschnitte behandelten, aber generell sehr einnehmenden und fesselnden Inszenierung, gestaltet Marjane Satrapi keine vorbehaltlose Heldenverehrung. Obwohl die Iranerin keine Distanz zu ihrer Hauptfigur aufbaut, ist sie nicht unkritisch, eigentlich immer offen und auch hinterfragend. So wird zum Beispiel bei Satrapi die Affäre mit Langevin keine Liebesgeschichte, sondern ein egoistischer Befreiungsschlag zum emotionalen Selbstschutz. Auch die Beziehung zu ihren Töchtern wird der Sucht nach den Elementen untergeordnet. Es ist Irène, die viel zu früh auf sich allein gestellt, das Verhältnis zu ihrer Mutter in die Hand nehmen muss.
Der Danny Boyle Kameramann Anthony Dod Mantle hat ein eindringlich visuelles Konzept für die Geschichte geschaffen. Die nach Original-Fotos gestalteten Einstellungen sind mit einfassenden Vignetten umgesetzt, und mit geringer Schärfentiefe fokussiert er immer die eigentliche Bedeutung des Bildes. Mit dieser Ästhetik vermischt Mantle sehr geschickt, moderne Kameragestaltung und klassische Bildsprache. Mit fast Sepia anmutenden Farbentwürfen, entwirft er so einen ganz eigenen Stil, der in seiner Wechselwirkung fast zeitlos erscheint. Da gehen Evgueni und Sacha Galperine mit ihrem Soundtrack vollkommen konform. Mit hauptsächlich elektronischen Klängen, manchmal auch bewusst dissonant, reißt die Musik die zeitliche Ebene der Erzählung immer wieder auf, und lässt sie unbestimmt scheinen. Das harmonisiert alles herausragend mit der Inszenierung von Marjane Satrapi, die ihr Frauenbild nicht heroisiert, und die männliche Dominanz auch nicht auf diese bestimmte Epoche reduziert wissen will.
Die einzig herausstechende Primärfarbe des Films ist grün. Marie Curies Schicksal, welches sie nicht nur ständig mit sich herum trägt. Grün bestimmt auch die aus der eigentlichen Handlung herausgenommen Zeitsprünge. Blicke in eine Zukunft nach Curie, aber wegen Curie. Sie beginnen verheißungsvoll, zum Beispiel mit einem Jungen im Rollstuhl, dessen Heilungschancen in medizinischer Bestrahlung liegen. Je erfolgreicher die Wissenschaftlerin arbeitet, umso düsterer werden die Aussichten. Die Elona Gay über Japan, und später ein unbedarfter Feuerwehrmann in Tschernobyl. Diese Szenen geben dem Film eine unglaublich intensive Dramatik, was letztendlich MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS in seiner zusammengefassten Konzeption, zu einer sehr eindringlichen, spannenden und durchaus emotionalen Biografie macht, die man sehen sollte.
Darsteller: Rosamund Pike, Sam Riley, Anya Taylor-Joy, Cara Bossom, Aneurin Barnard, Katherine Parkinson, Simon Russell Beale, Tim Woodward u.a.
Regie: Marjane Satrapi
Drehbuch: Jack Thorne
Kamera: Anthony Dod Mantle
Bildschnitt: Stéphane Roche
Musik: Evgueni Galperine, Sacha Galperine
Produktionsdesign: Michael Carlin
Großbritannien – Ungarn – China – Frankreich – USA
2019
109 Minuten