Netflix – 18.12.2020
MA RAINEY’s BLACK BOTTOM
Es ist 1927. Später wird sich Gertrude Ma Rainey als ‚Mutter des Blues‘ in die Geschichtsbücher singen. Ihr Ruf als Ikone ist allerdings schon gefestigt. Darunter wird Plattenproduzent Sturdyvant besonders leiden. Aber was aussteht, ist die Aufnahme jenes Albums, auf dem auch ‚Black Bottom‘ verewigt sein wird. Das Lied wird Geschichte schreiben. So wie Bühnenautor August Wilson Geschichte auf seine ganz eigene Weise schrieb. Der 2005 verstorbene Dramatiker hat zehn Stücke verfasst, für jedes Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts eines. Und jedes Stück behandelt die signifikanten Lebensumstände, welche die Entwicklung, Stimmung und Herausforderung der schwarzen Bevölkerung in der jeweiligen Dekade definierte.
Musikproduzent Sturdyvant ein erstaunliches Gespür für die Vermarktbarkeit von schwarzer Musik, die in der weißen Gesellschaft noch nicht überall Anklang gefunden hat. Und was er sich als Weißer an Exzentrik und Herabsetzung von der schwarzen Ma gefallen lassen muss, erleidet er aus Geschäftssinn. Was man als sozial nicht akzeptierte Anbiederung leicht missverstehen kann, bekommen andere, weniger bekannte schwarze Musiker von Sturdyvant vice versa serviert.
Einer von diesen Musikern ist Levee, der Jüngste im Quartett von Ma Rainey. Voller Ambitionen, weil er schon zu viel erlebt hat, aber zu jung ist, seine Lebenssituation richtig einschätzen zu können. Wie für ein Bühnenstück üblich, ist die Geschichte sehr dialoglastig. Und Regisseur George Wolfe nutzt dies auch im vollen Umfang für die filmische Adaption. Seine Inszenierung atmen förmlich den Charakter einer Theateraufführung. Trotz, oder vielleicht gerade wegen der exzellenten Kameraarbeit von Tobias Schliessler.
Schliessler kann die klaustrophobische Enge des stickigen Proberaums, und die ausladende Weite des Aufnahmesaals sehr geschickt nutzen. Die Close-Ups der Gesichter und die Atmosphäre der Räumlichkeiten im wechselwirkenden Schnitt, erweitern die Intensität der Dialoge und Monologe. Aber es ist nicht so, dass einfach nur sehr viel gesprochen wird. Die Sprache, die Aussagen, die damit einhergehenden Situationen sind der Grundstein für das Stück, also auch für die Verfilmung.
Die Dialektik und der Sprachjargon sind nicht nur wichtig für das Zeitkolorit, sondern besonders für das Verständnis in August Wilsons Abhandlung über diese Epoche. Die meisten Wortwechsel sind extrem mit Metaphern durchsetzt. Aber diese Metaphern sind keine verkünstelte Ausdrucksform, wollen auch keine Brücken für soziologische Interpretationen bilden. Jedes sprachliche Bild bleibt ganz klar in seiner Aussage, aber auch in seiner Zeit. Sie haben Gewicht.
Auch wenn zwei Charaktere, Ma Rainey und Trompeter Levee, die maßgeblichen und handlungstreibenden Figuren sind, bleibt keiner der anderen Charaktere ohne Bedeutung. Jede Rolle zeichnet ein anderes zeitgemäßes Profil. Da stellt sich wie selbstverständlich Viola Davis als Mutter des Blues ganz weit heraus. Da können sich die technischen Aspekte noch so herausragend ausnehmen, auch das Szenenbild und das nicht aufdringliche, aber treffsichere Zeitkolorit. August Wilson hat das Stück ‚Ma Rainey‘ genannt, und sie bleibt auch immerzu das Leitmotiv.
Davis leidet, ist überheblich, weint, zeigt sich böse, unverletzlich, und sie ist getrieben von einem Selbsterhaltungstrieb, dem Jahre an Erfahrung in einer ungerechten Welt voran gehen. Sie behandelt die weißen Studioarbeiter wie niedere Lakaien. Unter der enorm unvorteilhaften Maskerade und den körperlich ungünstigen Kostümen zeigt Davis eine grandiose Darbietung.
Ihre Augen verraten, dass hinter ihrem unausstehlichen Hochmut, die finstere Wahrheit liegt. Sie holt sich, was ihr sofort wieder verwehrt wird, wenn die Aufnahmen beendet sind. Und sie lässt auch nicht zu, dass ihr genommen wird, was sie sich selbst erarbeitet hat. Am Ende ist es kein ausgeprägter Egoismus, sondern die Angst vor dem Verlust und derr Ungewissheit.
George C. Wolfe hat MA RAINEYs BLACK BOTTOM sehr eindringlich, und dabei mit 93 Minuten auch erstaunlich kurzweilig inszeniert. Viele Filme dieser Art, ob Biografie oder Sozialdrama, nützen gerne 120 Minuten plus, um schon lange vermittelte Inhalte noch einmal übertrieben zu vertiefen. Selbst wenn hier gesellschaftlich Fragen und Aussagen von 1927 allgegenwärtig sind, als Kernthema selbstverständlich, will MA RAINEY kein filmtypisches Traumgebilde von Hoffnung und Gerechtigkeit zeichnen. Der Film ist am Status Quo seiner Zeit interessiert, und dass macht ihn noch viel eindringlicher.
Darsteller: Viola Davis, Colman Domingo, Glynn Turman, Chadwick Boseman, Michael Potts, Jeremy Shamos, Taylour Paige u.a.
Regie: George C. Wolfe
Drehbuch: Ruben Santiago-Hudson
nach dem Stück von August Wilson
Kamera: Tobias A Schliessler
Bildschnitt: Andrew Mondsheim
Musik: Branford Marsalis
Produktionsdesign: Mark Ricker
USA / 2020
93 Minuten