THE OTHER LAMB
– Fantasy Filmfest 12.07.2020
– DVD / Blu-ray ab 28.07.2020
Es ist Malgorzata Szumowskas erster englischsprachiger Film. Und am Ende bleibt die Frage unbeantwortet, ob für THE OTHER LAMB überhaupt eine verständliche Sprache von Nöten gewesen wäre. Wenn man von Kunstfilm oder Arthouse Kino redet, oder scherzhaft die triste Schwere von slawischen Filmfestivals erwähnt, dann ist genau von diesem Film die Rede. Im Übrigen ist Regisseurin Szumowska tatsächlich Polin. Das skizzieren des grundlegenden Konzeptes ist gleichzeitig auch Handlung. Ein paar Frauen und fast ebenso viele Mädchen. Die älteren sind die Frauen des Hirten, gekleidet in groben roten Kleidern, welche die Siedlerzeit des 18. Jahrhunderts vermuten lassen. Die Mädchen sind die Töchter des Hirten, in blauen Kleidern. Der Hirte ist der einzige Mann. Auch eine Schafsherde besteht hauptsächlich aus Mutterschafen, wenn sie einen Bock in ihrer Mitte dulden, dann nur zur Fortpflanzung.
Bei einer Laufzeit von 97 Minuten, braucht THE OTHER LAMB neunzig Minuten, um mit einer Auflösung aufzuwarten, welche als einzige Sequenz deutungsfrei bleibt. Was zuvor passierte, ist eine Abfolge von Metaphern und existenziellen Fragen, die unbeantwortet bleiben. Eine hypnotische Raffey Cassidy, die in TOMORROWLAND wesentlich eindringlicher und verbindlicher sein durfte, ist die junge Selah, kurz vor dem Erwachsenwerden. Sie ist in diese Welt hineingeboren, in der es keine Bequemlichkeiten und keine Zweifel an der Hingabe für den Hirten gibt. Die Zeit könnte irgendwann sein, wären da nicht ab und an Bilder, die im Heute verortet sind. Ob diese Wirklichkeit sind, oder nur Selahs Visionen, wird sich erst viel später herausstellen. Allerdings mit einem Hauch berechtigter Zweifel. Überhaupt will Szumowska gar nicht aufklären, ob es Visionen oder Phantasien sind, welche die von ihrer aufkeimenden Weiblichkeit irritierte Selah umtreiben. Genau wie das immer wieder in Erscheinung tretende Opferlamm, beim dem die jungen Frau nie zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann. Ganz zu schweigen vom Zuschauer, der auf sich allein gestellt bleibt.
Als einzige in der eigenartigen Kommune, für deren existenz selbstredend ebenfalls keine Erklärung bereit gehalten wird, beginnt Selah den Hirten und seine Unfehlbarkeit zu hinterfragen. Gerade als er für sich entschieden hat, dass das merkwürdig aufmüpfige Mädchen seine nächste Hauptfrau sein soll. Es ist ein Fest für Kameramann Michal Englert, der sich in schwelgerischen Bildern und atemberaubenden Motiven verliert, und das Publikum auf eine optische Reise schickt, die unentwegt herausfordert. Wie die kaum vorhandene Handlung, sind auch die Bilder immer wieder symbolbehaftete Rätsel, welche man auflösen kann, aber dennoch erst im Gesamten zu einer Struktur zusammen fassen muss. Hier beginnt auch der unterschwellige Horror, der mehr und mehr den Zuschauer befällt. Es wird nie klar, warum die Frauen sich das antun. Wo liegen die charismatischen Stärken des Hirten, und warum bleiben die Frauen derart phlegmatisch unterwürfig. Sogar eine aus der Gruppe ausgestoßene Mutter zieht nicht einfach ihres eigenen Weges.
Das Ende scheint wie eine logische Konsequenz aus den vorangegangenen Erfahrungen. Aber selbst hier sperrt sich der Film noch gegen eine gesamtheitliche Erklärung, wo doch jede Szene mit einer Frage behaftet bleibt, weil diese mit einer Deutungsvielfalt inszeniert sind. THE OTHER LAMB ist ein optischer Leckerbissen, der seinen Tribut fordert. Er ist alles andere als leicht, in weiten Teilen sogar anstrengend. Es dürfte aber nicht wenige Zuschauer geben, die den Film sogar wegen seiner leidenschaftlichen Konsequenz, sehr spannend finden dürften. Ein entspannter Kinoabend sieht allerdings definitiv anders aus.
Darsteller: Raffey Cassidy, Michiel Huisman, Mallory Adams, Kelly Campbell, Eve Connoly, Ailbhe Cowley u.a.
Regie: Malgorzata Szumowska
Drehbuch: C.S. McMullen
Kamera: Michal Englert
Bildschnitt: Jaroslaw Kaminski
Musik: Rafaël Leloup, Pawel Mykietyn
Produktionsdesign: Ferdia Murphy
Irland – Belgien – USA / 2019
97 Minuten