FFF20: FANNY LYE DELIVER’D

FFF20-kleinNÜRNBERG / Cinecitta 16.- 20.09.20
HAMBURG / Savoy Filmtheater 16.- 20.09.20
MÜNCHEN / Cinema 16.- 20.09.20
STUTTGART/ Metropol 23. – 27.09.20
KÖLN / Residenz-Astor 23. – 27.09.20

Fanny Lye Deliverd 1 - Copyright COPRODUCTIONOFFICEFANNY LYE DELIVER’D
– Prime Video / DVD
ausschließlich UK

Man kann FANNY LYE DELIVER’D auf ganzer Linie als außergewöhnlich bezeichnen. Ob man dies in die negative oder positive Richtung auslegt, sei dahin gestellt. Der fast schon im Alleingang verantwortliche Filmemacher Thomas Clay hat dieses Werk entworfen, es gestaltet, in Form gebracht, es akustisch herausgearbeitet. Ganz nach seiner Vorstellung und Absicht. Und alles was man an diesem Film außergewöhnlich finden mag, kann man in beide Richtungen bemängeln oder bejubeln. Thomas Clay hat einen sehr zwiespältiges Drama geschaffen, welches sich auch jede Art von Kritik gefallen lassen muss. Ob beabsichtigt oder nicht, es bleibt sehr viel Raum für Spekulation und Interpretation. Wo die eigentlichen Intentionen des Autorenfilmers liegen, kann man der Pressemitteilung entnehmen. Von selbst erklärt sich FANNY LYE DELIVER’D nur sehr schwer.


Es ist 1657, und die Regentschaft von Oliver Cromwell zu Ende. Seine ungebändigten Versuche aus dem Zusammenschluss der Länder eine Republik zu formen ist gescheitert. Das ist für die Familie Lye auf ihrem kleinen Hof in der Abgeschiedenheit von Shropshire unerheblich. Für die Geschichte markiert es einen Punkt des Umbruchs. Das Land befindet sich auf dem Weg, wie er nunmehr ungestört in die Zukunft führen wird. Gleichzeitig findet auch ein gesellschaftlicher Wandel statt, der wie hier veranschaulicht, real war aber noch heute befremdlich wirkt.

Die Grundfesten der Emanzipation lassen ihre ersten Keime aus der Erde wachsen. So will es der Autor verstanden wissen. Was der Zuschauer wahrnimmt, ist der Ausbruch aus einem Korsett von Unterwerfung und Erniedrigung. Die dreiköpfige Familie lebt abgeschieden von anderen Farmen, sie sind gottesfürchtig und bescheiden, der Vater hat im Krieg gedient, die Mutter ist eine bessere Magd, das Kind spurt wie ein gedroschener Hund. Aber so war es. Das als Handlungsort Shropshire gewählt wurde, könnte durchaus in diesem Zusammenhang durchaus beabsichtigt sein. Schließlich sagt man dieser Grafschaft nach, sie wäre die Wiege der industriellen Revolution in Europa. Fügt sich zumindest als ergänzendes Sinnbild sehr gut in den Film ein.

Thomas Clay lässt keinen Zweifel daran, dass er richtig großes Kino machen wollte. Allein die Bildgestaltung von Giorgos Arvanitis ist von der ersten bis zur letzten Einstellung perfekt komponiert. Ständig aufziehender Nebel, elegische Fahrten voller fesselnder Atmosphäre, die Farm als eigenständiger Organismus. Die Kamera fängt ein, was man mit Bildformat 2,35:1 überhaupt erreichen kann. Aber es ist keine bloße Aneinanderreihung von grandiosen Stimmungsbildern, sondern sie haben einen beständigen Fluss, weil auch jedes Bild eine Bedeutung hat. Die Aufnahmen vermitteln Atmosphäre, und erzählen gleichermaßen. Bildsprünge und Anschlussfehler wird man in diesem Film nicht finden. Nur die Innenaufnahmen bei Nacht sind zu stark von künstlicher Beleuchtung geprägt. Das fällt allein deswegen so stark ins Gewicht, weil der Rest so einen perfekten Eindruck macht.

Fanny Lye Deliverd 3 - Copyright COPRODUCTIONOFFICEEin um Hilfe suchendes Pärchen, bringt die geregelte Ordnung auf der Farm durcheinander. Aber als an das Wort gebundene Christen, werden die zwei jungen Leute in Not natürlich aufgenommen. Dem Oberhaupt John und ebenso dem Zuschauer fällt schnell auf, dass er seine Familie öfters und eindringlicher disziplinieren muss. Die ungezwungene Art der Gäste beginnt einen schlechten Einfluss zu nehmen. Bis der Sheriff mit zwei Gefolgsleuten auf dem Anwesen steht, und sich damit das Leben aller auf den Kopf stellt. Bis zu diesem Punkt und noch darüber hinaus dürften nicht wenige Genre-Freunde verwundert sein, was ihnen anstelle eines handfesten Horrorstreifens angerichtet wurde.

Noch immer wirkt Robert Eggers‘ THE WITCH als kongeniale Mischung von Horror und frühneuzeitlicher Abhandlung im Genre nach. Selten das ein Film so einen Einfluss nach sich zieht, ohne wirklich einen entsprechenden finanziellen Erfolg vorweisen zu können. Aber allein nach dem Trailer von FANNY LYE DELIVER’D kann man sehr leicht der irrigen Meinung verfallen, einen atmosphärisch an THE WITCH angelegten Film erwarten zu können.

Horror ist es nicht, aber ein stetes Gefühl des Unbehagens bleibt auch hier immer spürbar. Die Geschichte ist auf das das Wesentlichste ausgedünnt, dennoch enorm spannend umgesetzt. Wo der lockere Lebenswandel Einzug hält, wird er in der streng puritanischen Ordnung als Ketzerei angesehen. Worauf zwangsläufig Konfrontation folgen muss, in einem zu erwartenden, nicht sehr schöne Ausmaß. Dabei besticht die Inszenierung immer wieder mit dem überraschenden Realismus der mit dieser Zeit einher ging. Weit weg von übermäßigen Gewaltorgien und unreflektierter Menschenverachtung welche im modernen Kino gerne überzeichnet dargestellt wird, um Schauwerte zu erfüllen und eine Zeit zu portraitieren, die man selbst nur aus erfundenen Filmgeschichten zu kennen glaubt, aber so nie stattgefunden hat.

Das Problem bei den meisten Filmen, wo alle künstlerischen Bereiche in einer Hand liegen, trifft auch in einigen Teilen bei Thomas Clays FANNY LYE DELIVER’D zu. Von sich überzeugte Filmemacher neigen zu selbstverliebten Überreizungen. So hätte der Film durchaus um einige Minuten gestrafft werden müssen. Die Musik ist großartig und kratzt immer am Rande des Bombasts, aber in weiten Teilen ist sie für die Atmosphäre des Films viel zu übertrieben, und nur ganz selten angemessen. Da hätte man durchaus die freie Hand von Thomas Clay etwas in Watte packen müssen.

Für eine TV-Auswertung ist FANNY LYE DELIVER’D eindeutig vergeudet, allein wegen seiner optischen Opulenz die nach einer Leinwand schreit. Aber scheinbar hat sich wirklich kein Verleiher gefunden, und selbst die nicht wenigen produzierenden Unternehmen verfügen über keinerlei Pressematerial. Den Suchanfragen auf entsprechenden Seiten nach, scheint es den Film überhaupt nicht zu geben. Allein die Dachfirma ‚The Coproduction Office‘ liefert ein spärliches Presseheft, aus dem man Bildmaterial selbst anfertigen muss. Wie man einen Film derart sträflich behandeln kann, ist überhaupt nicht nachvollziehbar und entzieht sich jeder Vernunft. Noch dazu das ARTE als öffentlich-rechtlich geführter Sender mit involviert ist.

Fanny Lye Deliverd 2 - Copyright COPRODUCTIONOFFICE

 

Darsteller: Maxine Peake, Charles Dance, Freddie Fox, Tanya Reynolds, Zak Adams, Peter McDonald, Perry Fitzpatrick, Kenneth Collard
Regie & Drehbuch & Musik & Bildschnitt: Thomas Clay
Kamera: Giorgos Arvanitis
Produktionsdesign: Nenad Pecur
Deutschland – Großbritannien / 2019
112 Minuten

Bildrechte: COPRODUCTIONOFFICE
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