DER BUNDESSTART FÄLLT ZUSAMMEN MIT DER
TEILNAHME AM FANTASY FILMFEST 2020
THE PERSONAL HISTORY
OF DAVID COPPERFIELD
– Bundesstart 24.09.2020
Bei weitem nicht so bitter, nicht so schwarzhumorig, auch nicht so authentischwie Armando Iannuccis bisherige Arbeiten als Regisseur und Drehbuchautor. Das ist DAVID COPPERFIELD, eine weitere filmische Adaption des Fortsetzungsromans von Charles Dickens. Inmitten seiner Schaffenskraft begann Dickens mit diesem Roman, in welchem er sehr viel autobiografische Erlebnisse aufarbeitete. Wie im Roman endet auch Iannuccis Film weit vor der Deklaration Dickens als einer der bedeutendsten englischen Schriftsteller überhaupt. So finden sich in dieser Art Autobiografie auch nur sehr unpräzise Andeutungen für die Inspirationen zu den Meisterwerken ‚Oliver Twist‘, ‚Eine Weihnachtsgeschichte‘, oder ‚Große Erwartungen‘. Als Erzählung steht also DAVID COPPERFIELD frei und für sich.
Für Armano Iannucci ist Dickens kein Unbekannter, er hat ihn nicht einfach nur gelesen und in der Schule behandelt. Er hat ihn regelrecht studiert, und sich auch in seiner Karriere als Filmemacher und Autor mit ihm intensiv auseinandergesetzt. Beste Voraussetzung einen Roman mit über sechshundert Seiten auf zwei Stunden Film herunterzubrechen. Die vierteilige Struktur des Buches ist erhalten geblieben – Kindheit, Lehrjahre, Studium und Ehe, Neubeginn. In der Kürze der Zeit eigentlich kaum möglich deshalb weniger markant, sind dennoch einige Unterteilungen der insgesamt 64 Kapitel im Handlungsverlauf spürbar.
Sehr innovativ umgeht der Film die Beschränkungen einer herkömmlichen Erzählung, geschrieben aus der Ich-Perspektive, tritt der Erzähler auch selbst in Erscheinung. Zu Beginn in einem vollbesetzten Theater wo Copperfield eine Lesung aus seiner Biografie hält. Szenenwechsel oder Kapitelübergänge werden mit Filmprojektionen der kommenden Aufnahmen auf die Kulisse des aktuellen Settings geworfen. Einmal wird anstelle einer emotionalen Reaktion, ein entsprechendes Bild auf die betroffene Person projiziert. Manchmal tritt der erwachsene David seinem jüngeren Selbst gegenüber. Oder eine gigantische Hand hebt den Hauptdarsteller in ein nächstes Kapitel. Iannucci hat sich mit Co-Autor Simon Blackwell einiges einfallen lassen, nicht um die Inszenierung aufzulockern, sondern die Übergänge sind als integraler Bestandteil der Handlungsstruktur konzipiert. Blackwell ist Langzeitkollaborateur des Regisseurs, und man merkt dass sie die meisten ihrer Projekte zusammen gestemmt haben.
Technisch und künstlerisch ist der Film fast tadellos. ‚Fast‘ deswegen, weil er in der einzigen, eigentlich überflüssigen Monumentalaufnahme tricktechnisch versagt. Aber die Szenenbilder sind allesamt realistisch, und vermitteln phantastisch den Stellenwert der Örtlichkeiten innerhalb der Geschichte. Das trifft nicht nur auf den fragwürdigen Zustand von Davids Schule zu. Ganz besonderes Augenmerk gilt der überwältigenden Kulisse eines kieloben liegenden Schiffsrumpfs, der zu einem Haus umgebaut wurde. Ein Szenenbild, welchem eine signifikante Rolle zuteil wird, im Erwachsenwerden des David Copperfield.
Wer seinen Dickens nicht kennt, wird vielleicht vermissen, was man landläufig durch Unkenntnis von ihm zu wissen glaubt. Das viktorianische Zeitalter, mit all seinem Schmutz, dem Hauch von Hoffnungslosigkeit, die Armut, und die Schwere von dunklen und erdrückenden Kulissen. Irgendwo schwingt das alles auch in DAVID COPPERFIELD mit, aber es wird unentwegt mit einer positiven Stimmung und Akzeptanz entgegen gehalten, in der Ausgestaltung der Szenen, sowie mit der Darstellung der Figuren durch die Schauspieler. Mal sind Szenen ausgelassen und überdreht, manchmal mit einem hintersinnigen Augenzwinkern unterlegt. Es wird absurd, genauso wie merkwürdig. Eine Sequenz ist sogar ganz im Stil von Slapstick-Komödien der 1920er inszeniert.
Sollte sich doch jemand die Frage stellen, warum viele Paarungen so unreflektiert ethnisch durchmischt sind, wird er keine schlüssige Antwort erhalten. Die Europäerin Copperfield bringt den Inder David zur Welt, und der Asiate Wickfield hat eine schwarze Tochter. Viel mehr überrascht, dass es kaum einer hinterfragt. DAVID COPPERFIELD erlaubt sich viele verschiedene Stimmungen, er ist aber nie finster und zieht auch nie herunter. Es ist auch nicht möglich, denn die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive erzählt. Und David Copperfield ist mit einem offenen und wissbegierigen Gemüt geboren.
Versehentlich wurde ursprünglich eine unüberarbeitete Fassung veröffentlicht. Der Fehler wurde korrigiert.
Darsteller: Dev Patel, Aneurin Barnard, Peter Capaldi, Hugh Laurie, Tilda Swinton, Ben Whishaw, Daisy May Cooper u.a.
Regie: Armando Iannucci
Drehbuch: Simon Blackwell, Armando Iannucci nach Charles Dickens
Kamera: Zac Nicholson
Bildschnitt: Mick Audsley, Peter Lambert
Musik: Christopher Willis
Produktionsdesign: Cristina Casali
Großbritannien – USA / 2019
119 Minuten