BABYTEETH
– Bundesstart 08.10.2020
Als 1971 LOVE STORY die Welt in Tränentaumel versetzte, konnte man nicht absehen, dass damit so etwas wie ein Sub-Genre des Romantischen Films entstanden war. Das sterbende Mädchen. Die Adaption von DAS SCHICKSAL IST EIN MIESER VERRÄTER aus 2014 trieb das Ganze dann noch auf die Spitze als dass man gleich beide Verliebte sterben ließ. War seinerzeit LOVE STORY noch ein rationales, auf die Essenz fokussiertes Identifikationsstück, nutzt Rita Kalnejais ihr Bühnenstück ‚Babyteeth‘ für ein breiteres Spektrum menschlicher Verwirrungen im Schatten des möglichen Todes. Und Shannon Murphy hat für ihre filmische Umsetzung gut daran getan, Kalnejais das Drehbuch selbst für die Leinwand adaptieren zu lassen.
Die schwerkranke Milla lernt mit ihren siebzehn Jahren auf dem Schulweg den extrovertierten Herumtreiber Moses kennen. Angetan und irritiert von den ihr bisher unbekannten Gefühlen, bringt sie Moses sofort mit nachhause. Das verstört die psychotische Mutter Anna extrem, und Vater Henry der Psychiater, sieht schon einmal grundsätzlich alles gelassen. Es gibt noch ein paar wenige Nebenfiguren, die ebenso skurril beschrieben sind, allerdings nur für die charakterliche Vertiefung der Hauptdarsteller dienlich sind.
Ungewohnt in der Inszenierung ist die szenische Auflösung die der Erzählstruktur des Theaters folgt. Keine Szene ist nur eine Momentaufnahme, und auch kein überbrückender Zwischenschnitt. Jede Sequenz geht über einen lediglich füllenden Dialog hinaus, und findet ihre Bedeutung innerhalb der Erzählung. Dabei bedient sich die Geschichte auch jedes denkbaren Klischees, dass genau dann gebrochen wird, wenn man glaubt es durchschaut zu haben. So wird BABYTEETH zu einem spannenden Exkurs, der fast traumwandlerisch zwischen pragmatischer Erwartungshaltung und emotionaler Überraschung wandelt.
Zuerst kreisen die Figuren um sich selbst, und keiner gleicht auch nur in einer Nuance dem anderen. Zum Teil sind sie schwer verständlich, nicht immer nachvollziehbar, aber das löst sich mit der Zeit. So wie Milla, Moses, Anna und Henry sich extrem langsam, aber mit immer mehr Akzeptanz annähern, werden auch wir der Charaktere immer gewahrer ihrer Gefühle und Sehnsüchte. Für Milla ist es die erste wirkliche Liebe. Moses findet in Milla eine unerwartete Bestimmung in seinem dürftigen Leben. Anna kann endlich ihren Schmerz über Millas absehbares Schicksal auf andere projizieren und der Wahrheit ins Gesicht sehen. Während sich Henrys toxischer Kokon von Selbstschutz und überzogener Empathie langsam auflöst.
Es wird viel geredet, und viele Tränen müssen fließen. Aber genauso viel wird gelacht, und einige Male muss man auch überhaupt nichts sagen. Dabei definieren sich die Personen als Individuen selbst, die Beziehungen zueinander müssen wir Zuschauer allein bestimmen. Das Mysterium von Liebe und Hingabe kann nie eine allgemeingültige Erklärung bereit halten. Der Tod ist dabei nicht das überschattende Unheil, sondern ein fruchtbarer Nährboden. Schon von der ersten Szene an ist klar, worauf die Geschichte hinauslaufen wird. Da kann weder Kalnejais noch Murphy neue Ansätze bieten. Aber fesselnd und überraschend ist, auf welchen Wegen die Erzählung begangen wird.
Die Schauspieler sind exzellent, und besetzt, als wäre für sie das Stück geschrieben worden. Immer wieder, wenn wir glauben das der endgültige Fremdschäm-Effekt eintritt, bringen die Darsteller ihre Figuren auf eine andere Ebene. Sie sind eben nicht peinlich, nicht unsympathisch, und auf keinen Fall fremd. Sie sind außergewöhnlich komplex. Viel tiefgründiger, und auch ehrlicher als all die Protagonisten aus anderen Filme in diesem noch nicht bestätigten Sub-Genre. Mit Ausnahme von LOVE STORY.
Darsteller: Eliza Scanlen, Toby Wallace, Ben Mendelsohn, Essie Davis, Emily Barclay, Eugene Gilfedder, Andrea Demetriades u.a.
Regie: Shannon Murphy
Drehbuch: Rita Kalnejais
Kamera: Andrew Commis
Bildschnitt: Stephen Evans
Musik: Amanda Brown
Produktionsdesign: Sherree Phillips
Australien / 2019
118 Minuten