Editorial: DOCTOR SLEEP

Doctor Sleep 1, DOCTOR SLEEP - Bundesstart 21.11.2019  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Darsteller: Ewan McGregor, Rebecca Ferguson, Kyliegh Curran, Cliff Curtis, Zahn McClarnon, Amily Alyn Lind, Carl Lumbly, Carel Struycken u.a. Regie & Drehbuch & Bildschnitt: Mike Flanagan Kamera: Michael Fimognari Musik: The Newton Brothers Produktionsdesign: Maher Ahmad, Patricio M. Farrell Großbritannien - USA / 2019 152 Minuten  Bildrechte WARNER BROS. Entertainment GmbHMainstreamDOCTOR SLEEP
– Bundesstart 21.11.2019

Kaum zu sagen, ob es Kings makabrer Humor war, oder wahre Gefühle aus ihm sprachen. In Bezug auf die nie endende Kontroverse zwischen ihm und Stanley Kubrick, hat Stephen King einmal gesagt, „am Ende habe ich wenigstens die Genugtuung ihn überlebt zu haben“.

Das ist sicherlich nicht ganz fein ausgedrückt. Aber verdeutlicht auch, wie schwer ein Schwelbrand zu löschen ist. Und man kann sich vorstellen, zwischen welche zwei weit auseinanderstehenden Stühle sich Mike Flanagan setzen musste, als er seine zweite Stephen-King-Verfilmung in Angriff nahm. Aufgefallen war der Regisseur, Drehbuchautor und Cutter mit dem Netflix-Erfolg GERALDS GAME. Einer Romanverfilmung aus Stephen Kings Schaffenszeit seiner, mit Verlaub, nicht sehr überzeugenden Frauenromane. Geschichten, die aus der Sicht und den Empfindungen einer Frau geschrieben sind. Man möge verzeihen, aber seinerzeit hatte King keinen sehr tiefen Einblick in diese für Männer schwer zu beschreibende Welt. Flanagan hingegen konnte aus dem Ausgangsmaterial einen überzeugenden Nerven aufreibenden Psychothriller formen. Die Vertrauensbasis zwischen Autor und Filmemacher war gesetzt.


DOCTOR SLEEP hätte ein guter Horrorfilm werden können. Hätte. Man denke an eine Szene mit dem jungen Wunderknaben Jacob Tremblay, an deren Intensität und psychischer Brutalität gegenüber dem Zuschauer kein anderer Horrorfilm in den letzten Jahren herangekommen ist, und in weiter Zukunft auch keiner erreichen wird. Mike Flanagan hat voller Inbrunst verkündet eben keinen Film mit Genre üblichen Jump-Scares zu inszenieren, weil ein guter Stoff das auch nicht bräuchte. Zugegeben, DOCTOR SLEEP ist einer dieser Filme, in dem es alle paar Minuten ganz still wird, um dann mit unvermittelten Schnitt und Toneffekt den Zuschauer zu erschrecken. Trotzdem hätte DOCTOR SLEEP ein guter, einnehmender Gruselreigen werden können. Hätte. Man glaubt Ewan McGregor seinen Dan Torrance, ebenso überzeugt Rebecca Ferguson als sehr charismatischer moderner Vampir, und Kyliegh Curran kann als paranormal gesegnetes Kind mit Bodenständigkeit und einem Hauch kindlicher Naivität greifbar und realistisch sein.

Einigen Menschen dürfte entgangen sein, dass Stephen King eine Fortsetzung zu seinem 1977 erschienen Roman THE SHINING geschrieben und veröffentlicht hat. Der Autor wollte immer wissen, wie sich sein kindlicher Protagonist als Erwachsener entwickelt hat. 36 Jahre später folgte 2013 also DOCTOR SLEEP, die Metamorphose zweier Ideen die King im Kopf herum geisterten.

Nur wenigen Menschen hingegen dürfte entgangen sein, dass mit DOCTOR SLEEP nach 39 Jahren eine Fortsetzung zum Film THE SHINING in die Kinos gekommen ist. Und es hätte ein guter Horrorfilm werden können, wenn er nicht von seinem filmischen Vorgänger so erschlagen worden wäre. DOCTOR SLEEP darf nicht einfach ein gut ausgeklügeltes Gruselstück sein, dass seine Eigenständigkeit zelebrieren darf. Möglich wäre es gewesen. Da ist ständig gnadenlos dominierend THE SHINING. Obwohl DOCTOR SLEEP der bei weitem bessere Horrorfilm ist. Oh, Sakrileg.

Doctor Sleep 2,  Bildrechte WARNER BROS. Entertainment GmbHTHE SHINING ist ein gesamtheitliches Kunstwerk. Von den Dreharbeiten, zu den technischen Innovationen, die visuelle Konzeption, die erklärungsbedürftigen Metaphern, der Name Stanley Kubrick. Mit SHINING hat Kubrick etwas eigenes, etwas anderes geschaffen. Aber einen Horrorfilm? Menschen, die behaupten SHINING wäre das gruseligste, was sie je gesehen hätten, bleiben immer die Antwort schuldig, was sie denn eigentlich bei diesem Film sie so derart erschreckt hätte. Aber weil jeder Film von Stanley Kubrick ein Meisterwerk ist, was scheinbar in einem bisher unentdeckten Zusatzartikel irgendeiner geheimen Verfassung steht, stellt kaum einer seine Filme in Frage. Auch die Filme nicht, welche keiner sehen wollte, oder dessen Ende nicht einmal der Meister selbst im Stande war zu erklären.

Mike Flanagan war klar, dass er für seine Adaption den ikonischen Vorgänger nicht außer Acht lassen konnte. Selbstverständlich in intensiven Absprachen mit King persönlich. Das Dilemma vergrößerte sich dadurch nur, und man hat immer wieder das Gefühl, es dem Film auch anzumerken. Wenn immer DOCTOR SLEEP, der Film,  die Ereignisse aus SHINING aufgreift, dem Film oder dem Buch, ist die bildliche Gestaltung und der Fluss der Erzählung gebrochen. Flanagan beginnt seinen Film bereits mit den längst ikonografischen Bildern, welche Kubricks Vision von THE SHINING umgehend legendär machten. Das Dreirad, die Teppiche, die Korridore, endlos scheinende Kamerafahrten. Das Overlook Hotel auferstanden, in aller Pracht und jedem Detail, inklusive der typgleichen Schreibmaschine. Aber Kubricks Bildgestaltung ist nicht Flanagans eigene visuelle Interpretation.

Eine neue Generation von Kinogängern kann mit der Wiederholung nichts anfangen, der selbsternannte Cineast wird sich nur wundern. Es ist perfekt umgesetzt, aber nicht stimmig. Warum das zu bekämpfende Böse beim Showdown im Overlook den selben Eindrücken ausgesetzt ist, wie 36 Jahre vorher Danny Torrance macht vielleicht Sinn, allerdings wird diese Verbindung für den Zuschauer nicht hergestellt. Der endgültige Knackpunkt ist allerdings die zwanghafte, aber unsinnige Wiederbelebung der vergangenen Filmfiguren. Carl Lumbly, Roger Dale Floyd, Alex Essoe und Thomas Downing sind als Doubles von Crothers, Lloyd, Duvall und Nicholson eine nur gefällige Wahl. Grundsätzlich schießt aber DOCTOR SLEEP mit dieser Art der Inszenierung weit über das Ziel hinaus. Es lenkt ab, es verstört, es fühlt sich keinen Moment richtig an. Ein ganz eigener künstlerischer Kniff  wäre notwendig gewesen, um die Charakteren noch einmal in die Handlung einzubinden, aber keineswegs in expliziten Spielszenen.

Visueller Aufbau und Umsetzung von SHINING ist in der Filmwelt ein signifikantes Manifest eines in sich geschlossenen Werkes. Elemente davon handlungsrelevant in eine vollkommen anders konzipierte Fortsetzung aufzunehmen ist milde ausgedrückt, ein gewagtes Unterfangen. Dann aber auch noch die Figuren wieder zu beleben, sollte dabei erst gar nicht in Betracht gezogen werden. Das Buch war von seinen Charakteren geprägt, der Film allerdings, der wurde von den Schauspielern getragen. Genau jenen Schauspielern. Wen von den unbedarften Zuschauern sollte dies allerdings interessieren? Niemanden, ohne Zweifel. Aber warum dann überhaupt dieser fragwürdige Aufwand.

Das ist Mike Flanagans, also DOCTOR SLEEPs Dilemma. Ein Film der Brücken schlagen musste, zu neuen wie alten Zuschauern, den Lesern, den Freunden von Kubrick, und denen von King, und schließlich die schwierigste, nämlich von Kubrick zu King. Das da etwas auf der Strecke bleibt, oder eine Zuschauergruppe zurück stecken muss, erklärt sich fast von selbst. Als eigenständige Geschichte hat DOCTOR SLEEP das Potential, ein richtig guter Gruselthriller zu sein. In den Tiefen des weltweiten Netzes war einmal zu lesen, die Verfilmung von DOCTOR SLEEP könnte Stephen King wieder mit Stanley Kubrick versöhnen. Die Wahrheit kennt King allein. Zumindest bleibt dem Autor noch diese eine bestimmte Genugtuung…

Doctor Sleep 3, Bildrechte WARNER BROS. Entertainment GmbH

Darsteller: Ewan McGregor, Rebecca Ferguson, Kyliegh Curran, Cliff Curtis, Zahn McClarnon, Amily Alyn Lind, Carl Lumbly, Carel Struycken u.a.
Regie & Drehbuch & Bildschnitt: Mike Flanagan
Kamera: Michael Fimognari
Musik: The Newton Brothers
Produktionsdesign: Maher Ahmad, Patricio M. Farrell
Großbritannien – USA / 2019
152 Minuten

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