INHERENT VICE – Bundesstart 12.02.2015
Larry ‚Doc‘ Sportello ist Privatdetektiv im fiktiven Gordita Beach. Es ist 1970, eine Zeit wo es eigentlich immer Möglichkeit zur Bewusstseinserweiterung gab. Und Doc nutzt diese Möglichkeit auch unentwegt. Seinen Spitznamen hat Sportello dem Umstand zu verdanken, dass sein Büro im hintersten Winkel einer Privatklinik untergebracht ist. Warum Romanautor Thomas Pynchon ein Städtchen erfinden musste, das mit jeder Pore Venice Beach atmet, inklusive aller seiner Sub-Kulturen, das bleibt nur vordergründig ein Rätsel. Wenngleich kein anderer Stadtteil im Großraum Los Angeles so widersprüchlich, abwechslungsreich, und undurchsichtig bis zum heutigen Tag ist, wollte selbst Pynchon, und Regisseur Anderson noch weniger, einer ganzen Lebensgemeinschaft mit ihrer ganz eigenen Lebensauffassung auf den nicht getragenen Schlips treten wollten. Dafür kann man davon ausgehen, dass auch Gordita Beach, wie sein nicht zu greifendes Vorbild, heute nichts von seinem verwirrenden Charme verloren hätte. Mit Typen wie Larry ‚Doc‘ Sportello bestimmt nicht. Dieser wird von seiner Ex-Freundin Shasta aufgesucht, die ein Komplott gegen ihren Liebhaber, den Immobilienspekulanten Michael Wolfman vermutet. Angeblich planen Wolfmans Frau und deren Liebhaber, den Millionär in ein psychiatrisches Institut einweisen, und ihn damit entmündigen zu können.
Ganz offensichtlich gefiel Thomas Pynchon die Idee, den Hardboiled-Krimi von Ross Macdonald oder Dashiell Hammett, von der Unterwelt in ein absurdes Panoptikum von Hippies, Großspekulanten, Nazi-Gruppen und Prostitution zu heben. Von zwielichtigen Bars und dunklen Seitenstraßen, hinaus in eine unkontrollierbare bunte Welt von freier Liebe und von Drogen zerfressene Egos. Und man spürt die Begeisterung, mit welcher sich Paul Thomas Anderson dieser Aufgabe hingegeben hat. Nymphomaninnen, oral fixierte Polizisten, von Drogen zerstörte Drogenberater, Juden die sich mit Rechtsextremen umgeben, und Rechtsextreme, die Geschäfte mit schwarzen Bürgerrechtlern machen. Oder ein Zahnarzt außer Kontrolle, eine Staatsanwältin ohne Skrupel, und ein Saxophon-Spieler, den niemand erkennt, weil er sich als Bass-Spieler ausgibt. Das Docs Anwalt ein Anwalt für Seerecht ist, macht dann das eigenwillige Panoptikum noch perfekt.
Und in dieser Welt voller überdrehter Charaktere, gibt es lediglich eine Konstante, und das ist Larry ‚Doc‘ Sportello, gerade weil man von ihm erwartet, die unzuverlässigste Person im Spiel zu sein. Das Problem ist Andersons Absicht, nicht nur zwei Genres zu mischen, sondern eines davon gleich komplett aufzubrechen. Das eine ist die Satire, die leidlich funktioniert. Das andere ist der Krimi, der hier keine verschlungenen Pfade geht, keine fintenreiche Wendungen bereit hält, und keine düsteren Geheimnisse preis gibt. Anderson ist an den Figuren interessiert, und nicht an der sich an den Film-Noir orientierenden Handlungsaufbau. So wird aus dem vorgeblichen Krimi, ein Abfolge von sich ergänzenden Episoden. ‚Doc‘ wird mal hier angeheuert, was zufällig wieder zu dem verschwundenen Wolfman führt, oder er wird von anderer Seite kontaktiert, was ihn erneut Wolfman näher bringt. Die Struktur von INHERENT VICE kommt einem Flipper-Automaten gleich. Der Ball prallt an verschiedenen Hindernissen ab, wird hin und her geschossen, sammelt dabei Punkte, und geht dann mit High-Score irgendwann ins Aus. Zum spekulieren, oder mit rätseln ist die Geschichte gewiss nicht. Selbst ‚Doc‘ wird immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt, anstatt man ihm sein Schnüffelnäschen einmal für etwas anderes zugesteht, als eine Line zu ziehen.
Paul Thomas Anderson ist eben an seinen Figuren interessiert. THERE WILL BE BLOOD oder THE MASTER sind dafür seine eindringlichsten Beispiele. Seinen Humor bezieht der Film aus diesen Figuren, die allesamt eine ganze Spur zu überspannt sind. Wo die Wirklichkeit Halt machen würde, setzen die Charaktere in INHERENT VICE immer noch eins drauf. So als wollte Anderson, wie vielleicht von Pynchon beabsichtigt, vornehmlich einer Ära Tribut zollen, in der Drogenkonsum relativ war. Das hat allerdings oft einmal einen unpassenden Slapstick-Charakter, wo der Regisseur scheinbar die Grenzen innerhalb seiner Inszenierung nicht mehr im Blick hatte. So wie die Sequenz, wo ‚Doc‘ von einem großen Polizeiaufgebot verfolgt wird, welches versucht unsichtbar zu bleiben. Und wenn Joaquin Phoenix einen in einer Einstellung gedrehten Dialog über sechs Minuten führt, wo Katherine Waterston splitternackt neben ihm sitzt, dann hat das viel mehr verstörendes als amüsantes.
Gerade die Dialogsequenzen sind eine echte Herausforderung für den Zuschauer. Anderson lässt seine Darsteller reden, sehr lange. Er lässt sie ihre Szenen richtig ausspielen, und das zum größten Teil ohne einen einzigen Schnitt. Hier wird sich das Publikum spalten, welches auf der einen Seite INHERENT VICE als Meisterwerk preisen wird, und anderseits als zähes, viel zu langatmiges Kunstobjekt geschmäht werden wird. Während man beide Kritikpunkte gelten lassen muss. INHERENT VICE ist ein viel zu langer Film, der die Geduld seines Publikums durchaus auf die Probe stellen kann. Dafür ist er ein künstlerisches Gesamtkunstwerk, mit sehr hohem Unterhaltungswert. Wenn ‚Doc‘ mit einem neuen Hinweis auf den Nullpunkt zurück geworfen wird, steht er unvermittelt im dichten Nebel, und findet seinen Weg nicht zurück. Das sind für gewöhnlich unterstützende Stilmittel ambitionierter Filmstudenten. Bei Anderson sind das lästige Stolpersteine, die sich den Charaktere zusätzlich in den Weg legen. Er unterstützt nicht die Szene, sondern mokiert sich über die Figur, als wäre es eine sichtbare Reaktion des Zuschauers.
So langatmig und soviel kürzer INHERENT VICE sein könnte, und auch seinen Krimi-Plot nur mäßig beherrscht, gibt es bei dem Film doch sehr viel zu entdecken. So bunt und zusammengewürfelt die Figuren sind, genauso wie die verschiedenen Handlungspunkte ein Mix von vielen möglichen Absurditäten darstellen, ist der Unterhaltungswert zweifellos sehr hoch. Und einmal ehrlich, allein dieser Backenbart, den wirklich kein anderer so glaubwürdig tragen kann, wie Joaquin Phoenix.
Darsteller: Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Reese Witherspoon, Katherine Waterstone, Benicio del Toro, Jena Malone u.a.
Regie & Drehbuch: Paul Thomas Anderson, nach dem Buch von Thomas Pynchon
Kamera: Robert Elswit
Bildschnitt: Leslie Jones
Musik: Johnny Greenwood
Produktionsdesign: David Crank
USA / 2014
148 Minuten